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Als Eltern perfekt sein? – Good enough parenting

Eltern haben heutzutage unfassbar viele Informationen darüber, was ‚gute Erziehung‘ bedeutet. Wir wissen viel mehr als noch vor wenigen Jahrzehnten, was Kindern guttut und was ihre Entwicklung positiv beeinflusst. Das ist größtenteils sehr erfreulich, jedoch birgt diese Masse an Wissen auch ein paar Stolperfallen: Je mehr man weiß und versteht, desto höher werden oft auch die Ansprüche an die praktische Umsetzung.

Lesezeit: Etwa 4 Minuten
Kleines Mädchen ist auf dem Arm von der Mutter und schaut in die Kamera.

Eltern-Perfektionismus – zuviel Druck belastet Kinder

Oft spüren wir als Eltern einen unbeschreiblichen Druck, was unsere „Performance“ als gute Mutter/guten Vater angeht. Eltern wollen alles richtig machen, weil sie ihre Kinder lieben und ihnen das Allerbeste wünschen. Doch diese eigentlich gute Absicht kann zu sehr anstrengendem Eltern-Perfektionismus führen, der den Kindern dann überhaupt nicht guttut.

Der Kinderarzt und Psychotherapeut Donald Winnicot entwickelte bereits in den 1950ern den Ansatz des „good enough parenting“, des „ausreichend guten Elternseins“. Er fand heraus, dass Eltern, die versuchen, ihr Kind „perfekt“ zu erziehen und zu versorgen und in jedem Moment alles richtig zu machen, die Entwicklung des Kindes letztlich weniger gut fördern als Eltern, die liebevoll sind, aber auch gelassen mit eigenen Fehlern im Verhalten als Eltern umgehen. Das hängt damit zusammen, dass Perfektion für uns Menschen einfach nicht möglich ist. Wir alle sind mal müde, genervt, frustriert oder vergesslich – sonst wären wir ja Maschinen. Wenn wir dennoch jeden Fehler als Gefahr für unser Kind bewerten, dann leben wir in einer ständigen Atmosphäre von Schuldgefühlen und (Selbst-)Vorwürfen – was nicht nur uns Eltern, sondern auch unsere Kinder belastet.

Denn einem Kind geht es nicht wirklich gut, wenn ein Elternteil ständig unter Druck steht. Und: Wenn wir unserem Kind Perfektion bzw. das ständige, angestrengte Streben danach vorleben, dann wird es die Erwartung spüren, selbst auch keine Fehler zu machen. Und damit riskieren wir große Probleme in der Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls und einer guten Frustrationstoleranz.

Kindliche Entwicklung fördern durch ‚ausreichend gutes Elternsein‘

Es geht bei dem Konzept „good enough parenting“ nicht darum, kindliche Bedürfnisse grob zu ignorieren. Säuglinge brauchen eine möglichst zuverlässige, rasche Reaktion der Eltern auf ihre Bedürfnisse. Es ist gut, schnell auf ein weinendes Baby zu reagieren und es nicht unnötig lange weinen zu lassen. So entwickelt es Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen. Allerdings ist es weder möglich noch hilfreich, diese prompte und ständige Bedürfnisbefriedigung auch nach dem ersten Lebensjahr konstant weiterzuführen.

Denn wenn Eltern auch nach der Säuglingszeit versuchen, ihrem Kind in jedem Moment ihre volle Aufmerksamkeit zu geben und alle Wünsche zu erfüllen, dann fehlen wichtige Anreize für die Entwicklung von:

  • Selbstregulation – Ein Kind lernt nicht, seine eigenen Gefühle ohne viel Hilfe von außen zu regulieren.
     
  • Frustrationstoleranz – Das Kind gewöhnt sich nicht an den Umgang mit Misserfolgen, Langeweile und Schwierigkeiten.
     
  • Rücksichtnahme – Das Kind bekommt den Eindruck, dass allein seine eigenen Bedürfnisse zählen.
     
  • Geduld – Das Kind lernt nicht, abzuwarten.


Ein Kind, dessen Mutter und/oder Vater immer aufmerksam, zugewandt und geduldig sind, wird dies auch von anderen Menschen in seiner Umgebung erwarten. Und es wird große Probleme haben, damit zurechtzukommen, wenn es merkt, dass die anderen Menschen sich nicht immer so verhalten – dass Menschen manchmal ungehalten, genervt, unaufmerksam, unfreundlich sein können. Derartige Erfahrungen werden ein solches Kind sehr schnell aus der Bahn werfen und verunsichern. Das kann dazu führen, dass es sich schwer damit tut, Freunde zu finden oder mit sozialen Konflikten umzugehen. Das Kind wird möglicherweise unbeliebt sein, weil es ihm schwerfällt, auf andere Rücksicht zu nehmen und ständig seine Wünsche durchsetzen will.

Oder auch anders herum: Das Kind wird sehr ängstlich und zurückhaltend, weil alle anderen Menschen im Vergleich zu den immer lieben und präsenten Eltern grob, unberechenbar und dadurch bedrohlich erscheinen. Das Kind kann den Eindruck bekommen, nur zuhause wirklich „sicher“ zu sein, weil es von dort keinen Frust kennt. 

Als Kind Frust und positive Erfahrungen machen

Ein Kind, das sich in dieser Welt gut zurechtfindet, braucht ein Aufwachsen, das beides ermöglicht: Die grundsätzliche Sicherheit, geliebt und versorgt zu werden. Und die Erfahrung, dass Frust, unerfüllte Wünsche und Probleme zum Leben dazu gehören – und man dennoch immer wieder Zufriedenheit, Freude und Verbundenheit mit anderen erleben kann. Nur so begreifen Kinder, dass sie Probleme bewältigen können und trotz Fehlern, ihre Ziele erreichen können.

Dazu brauchen Kinder Eltern, die ihnen die grundsätzliche Botschaft vermitteln: „Ich liebe dich und bin für dich da. Ich höre dir zu und verbringe gern Zeit mir dir. Ich lasse dich deine eigenen Erfahrungen machen und tröste dich, wenn du auf die Nase gefallen bist.“ Eltern, die meistens freundlich, respektvoll, aufmerksam und geduldig sind. Und zugleich Eltern, die auch mal genervt sind, nicht zuhören, keine Lust haben, zu spielen – und sich entschuldigen, weil sie zu laut geworden sind. Eltern, die die wichtigsten Bedürfnisse ihres Kindes, aber nicht jeden Wunsch erfüllen.