Bedürfnisorientiert erziehen, begleiten oder denken ist nicht so kompliziert, wie es sich vielleicht anhören mag. Bei der bedürfnisorientierten Erziehung geht es darum, feinfühlig zu erkennen, was dein Kind gerade braucht. Du beobachtest dein Kind und sein Verhalten und versuchst, herauszufinden, was es dir durch dieses Verhalten sagen möchte. Entscheidend bei der bedürfnisorientierten Erziehung ist, dass du dein Kind nicht für sein Verhalten (z. B. Beißen) verurteilst und stattdessen erkennst, was es dir durch sein Verhalten sagen möchte und welches unerfüllte Bedürfnis sich dahinter verbirgt. (z. B. Beißen = Bedürfnis nach Schlaf, Nähe oder Schutz).
Gestehe deinem Kind alle Gefühle zu, auch die unangenehmen Gefühle, und gebe diesen eine Berechtigung, anstatt sie zu relativieren durch Sätze wie: „Ist doch nicht so schlimm!“ oder „Da gibt es doch keinen Grund so wütend zu sein!“ Alle Gefühle dürfen da sein und du hilfst deinem Kind dabei, mit diesen Gefühlen umzugehen, indem du ihm durch eine liebevolle Haltung durch diese Gefühle begleitest und für dein Kind da bist und allen Gefühlen deines Kindes eine Berechtigung gibst.
Bedürfnisorientierte Erziehung heisst nicht, dass du keine Grenzen zeigst, wenn ein Verhalten (z. B. Schlagen) deine Werte verletzt. In diesem Moment zeigst du eine Grenze und versuchst währenddessen herauszufinden, warum dein Kind gerade geschlagen hat. Du versuchst, das unerfüllte Bedürfnis hinter dem Schlagen zu erkennen.
Möchte dein Kind dazugehören? (Bedürfnis nach Zugehörigkeit) Möchte dein Kind sich abgrenzen? (Bedürfnis nach Autonomie) Braucht dein Kind gerade Sicherheit?
Im weiteren Schritt zeigst du deinem Kind, eine andere Strategie zu finden mit seinen Gefühlen umzugehen, anstatt zu schlagen. Du sagst dann z. B.: „Stopp! Die Hände bleiben weg. Komm wir fragen, ob du mitspielen darfst. Ich helfe dir!“
In diesem Artikel erfährst du an konkreten Beispielen, wie bedürfnisorientierte Erziehung im Alltag gelingen kann.
Die Bedürfnisse deines Kindes zu erkennen und diese möglichst zeitnah zu erfüllen heißt nicht, es zu verwöhnen. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, welche Grundbedürfnisse ein Mensch hat? Zugehörigkeitund Verbindung, Liebe, Nahrung, Wärme, Gesundheit und Sauberkeit. Besonders bei der Liebe gab es in den letzten dreihundert Jahren einige Missverständnisse – sehr zum Leiden der späteren Erwachsenen. Hochnehmen, kuscheln, nachts mit ins Bett nehmen, liebevoll sprechen und berühren – das alles sind Möglichkeiten, deinem Kind zu einer gesunden Entwicklung zu verhelfen. Es stärkt das Selbstbewusstsein. Denn sich beschützt, gesehen, beruhigt und sicher zu fühlen, das ist die Basis für eine sichere Bindung und Urvertrauen. Wenn dein Kind, sich darauf verlassen kann, dass seine eigenen Bedürfnisse befriedigt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich seine Beziehungen im Leben stabil und verlässlich entwickeln werden.
Um bedürfnisorientiert zu begleiten, ist es wichtig, die Bedürfnisse deines Kindes zu kennen. Dein Kind dafür zu bestrafen, dass es seinem Entwicklungsbedürfnis nachgeht, hat dramatische Folgen.
Ein Beispiel: Lina, 1,8 Jahre alt greift enthusiastisch nach dem Laptop ihrer Mutter, der auf dem Couchtisch liegt. In der anderen Hand hat Lina eine Schnabeltasse mit Wasser. Ihre Mutter bekommt Panik und haut Lina auf die Hand, denn das hat sie selber als Kind so gelernt: „Nein!“ ruft sie. Das passiert immer wieder mal im Alltag, weil Lina wirksam sein möchte und ausprobiert mit „verbotenen“ Gegenständen zu spielen. Was fühlt, denkt und entscheidet Lina über sich und die Welt? Linas Bedürfnis nach Autonomie führt dazu, dass ihre Mama laut wird und ihr weh tut. Lina schämt sich. Sie lernt darüber schmerzlich, dass ihre Bedürfnisse wohl nicht richtig sind.
Wie kann Linas Mama ermutigend das Verhalten beeinflussen? Sie kann Linas Händchen nehmen und mit ihr zu einer Kiste Spielsachen gehen, die Lina neugierig erforscht. Sie setzt sich dazu und macht mit: „Huch, was ist denn hier alles drin? Ein Rasselball!“ Schnell wird Linas Aufmerksamkeit auf die interessanten und erlaubten Gegenstände gelenkt. Beim Erforschen zu ermutigen, auch mit Sätzen wie „Du bist ja eine große Entdeckerin!“ gibt deinem Kind das Signal, dass die eigenen Entwicklungsbedürfnisse richtig sind. Wenn Linas Mama sogar Zeit hat, mit Lina gemeinsam etwas zu entdecken, wie etwa die trockenen Blätter beim Spaziergang, entstehen dabei wunderbare Bindungsmomente, die sie beide genießen können. Folge also immer wieder der Aufmerksamkeit deines Kindes, es wird dir zeigen, was es gerade lernen möchte.
Zurück zum Beispiel von Lina und dem wertvollen Laptop auf dem Wohnzimmertisch. Damit Lina in ihrer Lebenswelt möglichst frei explorieren kann, was sie auch soll und möchte, braucht sie ein sicheres Umfeld. Gegenstände wie Telefone, Laptops, kleine Dekosteine oder giftige Pflanzen dürfen nur dort sein, wo Lina nicht von selbst hinkommt. Du möchtest deinem Kind in seinem Leben nicht ständig Dinge verbieten müssen. Und dein Kind kann Verbote noch gar nicht verstehen. „Nein! Das darfst du nicht!“ kann ein Kleinkind nicht kognitiv erfassen. Daher funktioniert Umlenken so viel besser. Beim Umlenken hilfst du deinem Kind, sein Bedürfnis zu erfüllen, nur mit einer anderen Strategie, die auch für dich ok ist.
Anmerkung zum Thema Sicherheit: Alles, was durch eine Klorolle passt, hat in Greifnähe deines Kleinkindes nichts zu suchen. Es könnte sich daran verschlucken.
Sorge dafür, dass dein Kind genug Möglichkeiten hat, dem Forschungsdrang nachzugehen. Kisten mit interessanten Spielsachen und Alltagsgegenständen, die du immer wieder mal austauschst, eine Schublade in der Küche, in der Plastikbehälter und Töpfe sind, das unterste Regal, auf dem Kinderbücher und Fahrzeuge stehen sind einige Beispiele.
Wenn dein Kind älter ist, frage es, was es interessant findet und stelle diese Dinge zur Verfügung. Liest dein Kind gerade alles über Dinos? Dann kommen Dinobücher ins Regal im Wohnzimmer. Beschäftigt es sich mit Geduldsspielen? Dann stelle ohne Worte neue Geduldspiele ins Regal und schau, wann diese entdeckt werden.
Was fühlt, denkt und entscheidet Lina jetzt? Sie wird ermutigt, ihren Entwicklungsbedürfnissen nachzugehen. Sie erlangt echtes Selbstbewusstsein durch deinen Zuspruch und die Erfolge beim Explorieren und ihre Wirksamkeit. Kinder treffen ständig Entscheidungen über sich und die Beziehungen in ihrer Welt. Sie haben noch keine Worte dafür, es geschieht unbewusst. Wenn sie später Erwachsen sind, treiben diese Entscheidungen maßgeblich dazu bei, wie sie ihr Leben gestalten. Daher ist es wichtig sich immer zu fragen: Welche Auswirkungen auf kindliche Entscheidungen hat mein Verhalten als Mutter oder als Vater?
Mit dem Verständnis der kindlichen Entwicklung ersparen sich Eltern viele unnötige Machtkämpfe und Stress. Wie kann ich dem Betasten, Kosten, Anfassen, Herausräumen eines 2-Jährigen mit Gelassenheit und sogar Freude begegnen? Dies gelingt leichter, wenn ich weiß, dass mein 2-Jähriges Kind alles betasten, kosten und ausprobieren MUSS, weil es eine Entwicklungsaufgabe ist, die Welt zu entdecken.
Dazu gehört auch, dass du die Lebensumgebung deines Kindes so vorbereitest, dass es sich möglichst ohne Gefahr darin bewegen kann. Die Wohnung „kindersicher“ machen sagen wir oft dazu. Es geht aber nicht nur um „sicher“ sondern auch um „interessant“. Bedürfnisorientiert begleiten heißt schnell zu erkennen, welche Bedürfnisse dein Kind gerade hat und den Alltag bedürfnisorientiert zu gestalten. Stell dir also gerne die Frage, ob dein Kind in eurem Alltag ausreichend Bewegung, Nähe, Spiel und Spaß, Geborgenheit, Orientierung, Sicherheit, Autonomie, liebevolle Führung usw. erfährt.
Wenn es bei euch gerade viele Machtkämpfe gibt und du aus dem Meckern und Schimpfen nicht mehr rauskommst, hilft dir vielleicht unser Videoseminar: Gewaltfrei Grenzen zeigen mit unserer Expertin Tanja.
Bedürfnisse und Wünsche sind nicht dasselbe! Bedürfnisse wie Nahrung, Wärme, Liebe und Verbundenheit, Sauberkeit und Gesundheit dürfen möglichst zeitnah erfüllt werden. Wünsche wie eine Süßigkeit, dass Bilderbuch zum wiederholten Mal vorlesen, hochgehoben werden (wenn man schon gehen kann) oder das ganz bestimmte Lieblingsessen dürfen auch mal warten. Je mehr ihr euch kennen lernt, desto feiner wird diese Unterscheidung.
Wenn dein Kind den Wunsch nach Medienzeit äußert, versteckt sich hinter diesem Wunsch vielleicht das Bedürfnis nach Abenteuer und gemeinsamer Spielzeit mit dir. Wenn dein Kind schon morgens nach dem Aufstehen nach Schokolade verlangt, möchte es dir vielleicht sagen, dass es noch Kuscheln und Geborgenheit braucht.
Wenn du etwas nicht erlauben willst, kannst du Alternativen anbieten: „Ich habe eine Idee. Wenn du Lust auf Süßes hast, lass uns doch heute einen Kuchen zusammen backen!“ So adressierst du nämlich nicht den Wunsch, sondern das Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit, und dein Kind wird begeistert zustimmen. Welche Alternativen zu Wünschen kennst du in eurem Leben? Wenn du dir in einer ruhigen Minute eine Liste machst, fällt es dir leichter, schnell auf eine Idee zu kommen. Gemeinsame Zeit ist immer eine gute Alternative zu Süßem, oder Konsum. Eine Geschichte vorlesen, zum Spielplatz gehen, zusammen ins Schwimmbad oder mit dem Fahrrad fahren sind tolle gemeinsame Aktivitäten.
Verzichte gerne darauf, dein Kind zu belohnen, da durch eine Belohnung häufig nur ein Wunsch und kein Bedürfnis erfüllt wird. Wenn du dein Kind z. B. durch Medienzeit belohnst, entziehst du ihm Bewegungszeit und echte Interaktion. Es ist auch nicht empfehlenswert dein Kind mit Geschenken zu belohnen, wenn es brav ist. Dadurch lernt es nämlich, nur erwünschtes Verhalten zu zeigen, um danach eine Belohnung zu erhalten.
Es lernt nicht, aus sich heraus, zum Wohle der Gemeinschaft beizutragen, sondern nur, weil ein äußerer Anreiz geschaffen wird. Der Psychologe Skinner spricht bei Belohnung und auch Bestrafung von der sogenannten operanten Konditionierung. Diese Lerntheorie funktioniert zwar, allerdings werden dabei die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes völlig außer Acht gelassen.
Deshalb schadet diese Form der Erziehung der freien Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes und dem kindlichen Selbstwertgefühl. Ein Kind verlernt dadurch darauf zu hören, was ihm gut tut und was es braucht. Es lernt nicht, sich im späteren Leben eigene Bedürfnisse zu erfüllen.
Ähnlich ist das bei der Bestrafung. Ein Kind zeigt aus Angst vor Strafe ein erwünschtes Verhalten und nicht, weil es fühlt und versteht, dass es anderen Menschen z. B. durch Schlagen schadet.
Hinzu kommt, dass das Kind das unerwünschte Verhalten meist nur dann nicht zeigt, wenn die strafende Person anwesend ist. Es wird also munter weiter geschlagen, sobald sich das Kind nicht beobachtet fühlt. So kann Bestrafung sogar zu einer Verstärkung des negativen Verhaltens eines Kindes fühlen.
In der bedürfnisorientierten Erziehung braucht es deshalb keine Belohnung und Bestrafung, sondern lediglich hin und wieder ein klares Nein, solange es liebevoll und bestimmt und aus Fürsorge heraus ausgesprochen wird. Der Frust der dann beim Kind entsteht, darf da sein und Eltern können diesen begleiten. Oft helfen dabei Gedanken wie z. B.: Ich bin gerne für dich da! Ich weiß, dass ich deinen Wunsch gerade nicht erfüllen konnte! Ich tue das richtige, wenn ich jetzt NEIN sage!
Wichtig ist, bei einem NEIN eine empathische Grundhaltung zu bewahren. Damit ist gemeint, dass es keine Härte braucht, sondern lediglich die Überzeugung, dass das NEIN zu meinem Kind jetzt sinnvoll ist. Wenn du z. B. NEIN zur Kinderserie sagst, schenke deinem Kind im ersten Schritt Einfühlung z. B. so: „Ich weiß, du würdest so gerne noch eine Folge schauen. Weil ich deine Mama/dein Papa bin und auf dich aufpasse, sage ich NEIN!“ Auch wenn dein Kind dann laut protestiert und frustriert ist, kann es sich viel schneller beruhigen, wenn du – ohne schlechtem Gewissen – hinter deinem NEIN stehst. Denn du hast ein klares Warum: Die Gesundheit deines Kindes.
Kinder dürfen mit zunehmendem Alter auch warten lernen, besonders, wenn es sich um Wünsche handelt. Ein 8-Monate altes Baby darf auch mal etwas quengeln, während du unter der Dusche stehst. In diesen Minuten, bis die Bezugsperson ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihr Kind richten kann erfährt es, dass es diese Momente aushalten kann. Es lernt, sich selbst zu regulieren. Wenn du nicht sofort kommen kannst, hilft es deinem Kind, wenn du ihm Empathie schenkst: „Ich habe gehört, dass du mich brauchst. Ich komme nachdem ich die Spülmaschine ausgeräumt habe, mein Schatz.“ Es erlebt zunehmend Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich zu regulieren, wenn du ihm diese Möglichkeit voller Liebe schenkst.
Wichtig ist auch hier zu verstehen, wo das Kind entwicklungsmäßig steht! Ein acht Monate altes Baby kann ein paar Minuten weinen, ohne dass die Welt zusammenbricht. Dennoch braucht es bei starken Gefühlsausbrüchen deine sogenannte Co-Regulation, indem du deine Nähe und Empathie anbietest und ihm z. B. mit dieser Haltung begegnest: „Ich sehe dich mit deinen Gefühlen und bin gerne für dich da. Ich helfe dir, dass du dich beruhigen kannst!“
Wieder entscheidest du mit zunehmendem Alter deines Kindes mit Wissen und deinem Bauchgefühl, denn du kennst dein Kind am besten. Wenn dein Kind auf dich gewartet hat, sprich gerne deine Wertschätzung aus: „Jetzt hast du dich ja richtig geduldet, das hast du jetzt alleine ausgehalten. Jetzt bin ich da.“ Selbst wenn dein Kind deine Worte noch nicht verstehen kann vermittelst du, dass du sein Bedürfnis ernst genommen hast und ihm wertschätzend begegnest.
Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet nicht, dass du zu jeder Zeit alle Bedürfnisse deines Kindes erkennen und sofort erfüllen musst. Allein dein Versuch, die Bedürfnisse deines Kindes im Blick zu haben und diese zu erfüllen ist bereits sehr wertvoll. Bedürfnisorientierung bedeutet auch, dass du deine Bedürfnisse anerkennst und liebevoll für dich sorgst, anstatt dich mit deinen Bedürfnissen hintenanzustellen. Wenn du z. B. völlig müde und hungrig auf dem Spielplatz stehst und dein Kind noch weiter schaukeln möchte, wäre es bedürfnisorientiert nach Hause zu gehen und zunächst für dich zu sorgen. Denn nur so kannst du im weiteren Verlauf des Tages wieder für die Bedürfnisse deines Kindes da sein. Auch wenn du in diesem Moment dein Bedürfnis in den Vordergrund stellst, triffst du diese Entscheidung zum Wohle der ganzen Familie. Eine gesunde Balance zwischen Freiraum sowie Autonomie und liebevollen Grenzen – ohne Belohnung und Bestrafung helfen deinem Kind dabei, sich frei in seiner Persönlichkeit zu entwickeln und ein starkes Selbstbewusstsein aufzubauen.