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Das Overtouched Syndrom – Warum kann ich keine Nähe mehr zulassen?

Körpernähe ist etwas, woran die meisten Eltern gerade in den ersten Lebensjahren ihres Kindes keinen Mangel leiden. Im Gegenteil, Säuglinge und Kleinkinder suchen und brauchen viele Kuscheleinheiten. Das ist schön und gesund, doch kann sich für Eltern auch manchmal überfordernd anfühlen.

Lesezeit: Etwa 5 Minuten
Mutter liegt mit Baby und Kleinkind im Bett.

Was ist das Overtouched Syndrom?

Mit dem Overtouched Syndrom (direkt überbesetzt: „über-berührt“) ist Folgendes gemeint: Junge Eltern, besonders oft Mütter, erleben ein „Zuviel“ an Körperkontakt. Das bedeutet nicht, dass sie nicht gern mit ihren Kindern schmusen. Aber wenn das Kind gestillt, viel getragen wird oder einfach insgesamt viel Nähe braucht, dann können Mütter und Väter das Gefühl bekommen, dass ständig „jemand an ihnen klebt“ und sie nahezu pausenlos zum Kuscheln zur Verfügung stehen. Dann kann es passieren, dass die Eltern, wenn das Kind schläft oder ruhig und zufrieden spielt, einfach keine weiteren Berührungen – zum Beispiel vom Partner*in – ertragen können.

Overtouched Syndrom: Symptome

Anzeichen für das Overtouched Syndrom sind u.a.:

Angst vor Intimität
Allein der Gedanke an körperliche Intimität kann Gefühle von Angst oder sogar Panik auslösen und es werden häufig Ausreden gesucht, um diese zu vermeiden.

Ekel vor dem Partner*in
Das ist oft gar nicht persönlich gemeint, sondern ist einfach eine Folge der Ablehnung von Körpernähe. Ekel ist ein starkes Warnsignal, das uns etwas gerade nicht guttut.

Gereiztheit
Wenn du spürst, dass dein Partner*in dich gern berühren möchte, du das aber nicht zulassen kannst, dann bist du in einer Zwickmühle und erlebst Druck. Diese Anspannung führt oft zu Gereiztheit. Unbewusst kann das auch ein Versuch sein, weitere Berührungen von dir fernzuhalten.

Lustlosigkeit
Manche Betroffene können sanfte, kurze Berührungen wie Küsse oder Umarmungen noch zulassen, aber empfinden eine starke sexuelle Lustlosigkeit. Auch Männer erleben diese Gefühle häufig.

Gefühlslosigkeit gegenüber dem Partner*in
Das Erleben, ständig von dem Kind gebraucht zu werden, kann dazu führen, dass Mütter und Väter sich innerlich leer und ausgelaugt fühlen. Dies kann sich auch auf die Liebe zum Partner*in auswirken: Die Überforderung führt zu einem Gefühl von Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit.

Warum entsteht das Overtouched-Syndrom?

Wie schon erwähnt, brauchen Säuglinge und Kleinkinder viel Körperkontakt, um sich geborgen und sicher zu fühlen. Die meisten Eltern erfüllen dieses Bedürfnis gern und genießen die Kuscheleinheiten selbst. Doch auch von sehr schönen Erfahrungen kann es ein subjektives „Zuviel“ geben und genau das geschieht beim Overtouched Syndrom.

1. Zu viel Kuschelhormon Oxytocin
Beim Kuscheln wird das Hormon Oxytocin freigesetzt. Dieses löst, in einem gesunden Maße, positive Gefühle wie Entspannung, Zuneigung und Wohlbefinden aus.  Wenn Eltern jedoch ständig mit ihrem Kind körperlich zusammen sind (und das ist ja gerade in den ersten Lebensjahren des Kindes oft der Fall) dann fühlen sie sich manchmal nahezu überflutet von diesem Hormon. Der Körper hat mehr als genug „Kuschelhormone“ ausgeschüttet und es ist absolut kein Bedürfnis nach „noch mehr“ da. Der Körper sendet quasi das Signal: „Es reicht, genug!“

2. Zu wenig „Me-Time“!
Hinzu kommt, dass durch das ständige und natürlich wichtige und wertvolle Kümmern um den kleinen Menschen oft die „Me-Time“ für junge Eltern deutlich zu kurz kommt: Ein Baby wickeln, füttern, waschen, beruhigen, tragen, in den Schlaf begleiten, kuscheln … all das kostet so viel Zeit, dass Mütter und Väter oft kaum mal ein Stündchen für sich haben. In den ersten Tagen nach der Geburt schaffen das viele Eltern problemlos, denn die Begeisterung für das neue Kind überdeckt nahezu alle anderen Bedürfnisse.

Doch früher oder später machen sich ungestillte Bedürfnisse bemerkbar. Und wenn das Bedürfnis, einfach mal für sich zu sein, sich selbst zu spüren, ohne auf die Gefühle und Erwartungen anderer reagieren zu müssen, ständig zu kurz kommt, dann kann auch das zum Overtouched-Syndrom führen. Denn wer sich selbst nicht mehr richtig spürt, fühlt sich in seinem eigenen Körper nicht mehr wohl, nicht mehr zuhause – und dann fällt es oft schwer, sich auf körperliche Nähe zu anderen Menschen einzulassen.

3. Keine persönliche Ablehnung
Ganz wichtig ist, zu wissen, dass die gefühlte Ablehnung nicht persönlich gemeint ist. Das ist sowohl für denjenigen, der gerade keine Berührungen mag als auch für den, der „zurückgewiesen“ wird, eine sehr wertvolle Information. Mitunter kann es sich sogar so anfühlen, als wenn ich meinem Partner*in gegenüber Ablehnung spüre, das kann sogar als Ekel empfunden werden – ziemlich erschreckend!

Oft sind aber diese starken Gefühle tatsächlich nicht direkt auf das Gegenüber bezogen, sondern Ausdruck von: „Ich brauche gerade Zeit für mich! Ich kann mich gerade nicht auf Nähe einlassen!“ Und natürlich ist der Partner *in der, der am meisten Nähe von uns „erwartet“. Der Widerstand gegen diese Erwartung kann sich dann als Wut, Gereiztheit oder eben sogar Ekel ausdrücken – Ursache ist aber meist nur der eigene Mangel an „Me-Time“.

Tipps zum Umgang mit dem Overtouched-Syndrom

Wenn du Anzeichen des Overtouched-Syndroms bei dir selbst erkennst, dann ist bereits etwas Wichtiges geschehen: Du bist auf ein Bedürfnis aufmerksam geworden. Darauf gilt es nun, gut zu reagieren.

1. Sprich mit dem anderen Elternteil und erkläre offen, was dir fehlt und warum die Nähe gerade so schwer fällt. Betone, dass es dabei nicht um persönliche Ablehnung geht. Und dann ist die Frage, wie du wieder mehr zu dir kommen kannst.
Also: Wie kannst du mehr Raum zum Auftanken in deinem Alltag schaffen? Wer kann dir das Baby/Kleinkind regelmäßig abnehmen? Wenn es hier familiär keine oder nur wenig Hilfe gibt, sind auch ehrenamtlichen-Projekte wie wellcome eine gute Möglichkeit.

Manchmal kann man auch Schlafenszeiten des Kindes, z.B. den Mittagsschlaf, bewusster nutzen, z.b., indem man sich selbst hinlegt und ein Hörbuch hört, liest, vielleicht mit einem leckeren Tee und einer Wärmflasche.

2. Auch Sport, Massagen (wenn du das zurzeit genießen kannst), Sauna oder Wechselduschen sind hilfreich, um sich selbst wieder besser zu spüren.

Mit dem Overtouched Syndrom bist du nicht alleine!

Die wichtigste Botschaft ist, dass diese Erfahrung eine ist, die viele Mütter und Väter machen und nicht bedeutet, dass du nie wieder Nähe genießen können wirst. Sieh dieses Gefühl stattdessen als Warnsignal, das dir hilft, dich auch im stressigen Familien-Alltag gut um dich selbst zu kümmern.