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Die Sache mit dem Bauchgefühl – Erziehung und Intuition

„Lies' nicht so viele Ratgeber – höre einfach auf dein Bauchgefühl!“ - hast du einen solchen oder ähnlichen Tipp auch schon einmal bekommen? Sicher ist er gut gemeint, doch ich finde, ganz so einfach ist es nicht mit der Erziehung und dem Bauchgefühl.

Lesezeit: Etwa 6 Minuten
Mutter schläft mit Kind auf dem Bauch

Der siebte Sinn hilft Eltern

Sicherlich gibt es Situationen, in denen eine Entscheidung schnell getroffen werden muss und in denen unser Bauchgefühl eine große Rolle spielt. Zum Beispiel, wenn ein Vater ein wichtiges Telefonat unterbricht, um draußen nach seinen spielenden Kindern zu sehen – weil er das starke Gefühl hat, dass irgendetwas nicht stimmt. Es gibt keinen Grund für diesen Verdacht – der Vater handelt rein aus Intuition. Oder, wenn eine Mutter sich gegen eine Tagesmutter entscheidet, obwohl diese über eine gute Ausbildung verfügt und tolle Räumlichkeiten hat – einfach, weil ihr Gefühl sagt, dass ihr Kind sich bei dieser Person nicht wohl fühlen wird.
Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, diesen elterlichen „siebten Sinn“ ernst zu nehmen. Wie gut, dass es die Intuition gibt!

Es gibt zudem ein sogenanntes „intuitives Elternprogramm“ - bestimmte Verhaltensweisen, die wir in der Regel automatisch an den Tag legen, weil wir spüren, dass sie unserem Kind gut tun. So entspricht der Abstand, den die meisten Eltern intuitiv zum Gesicht ihres Säuglings einnehmen, wenn sie ihn ansehen – ca. 40-50 cm – genau der Entfernung, in der die Kleinen gut sehen können. Auch die hohe Stimme und das langsame Sprechtempo, mit dem Erwachsene mit Babys reden, ist genau auf die Kommunikationsbedürfnisse von Säuglingen angepasst.

Erfolgreiche Erziehung braucht mehr als das Bauchgefühl

Das bedeutet jedoch nicht, dass es klug ist, in allen Erziehungsfragen „aus dem Bauch heraus“ zu handeln. Für die meisten Entscheidungen sind Informationen (zum Beispiel über kindliche Entwicklung) und Selbstreflexion (über eigene Prägungen und „automatische“ Verhaltensweisen, zu denen man neigt) eine wichtige Ergänzung zur Intuition.

Ein Beispiel: Paul, drei Jahre alt, wird seit einer Woche im Kindergarten eingewöhnt. Heute Morgen ist aber die Erzieherin Anke, die sich bisher immer um ihn gekümmert hat, krank und eine noch fast unbekannte Erzieherin stellt sich Paul vor. Der fängt an zu weinen und jammert: „Ich will nach Hause, Mama!“ Nun bleibt Steffi, Pauls Mama, nicht viel Zeit, um gründlich „Pro“ und Contra“ abzuwägen. Hilfreich sind aber ein paar Informationen über kindliches Beziehungsverhalten – dass gerade kleine Kinder Zeit brauchen, um Vertrauen aufzubauen, dass es wichtig ist, ihnen diese Zeit auch zu geben.

Wenn Steffi von ihren Eltern sehr „hart“ erzogen wurde und keine Rücksicht auf ihre Bedürfnisse genommen wurde, ist Steffi das möglicherweise nicht intuitiv klar. Sie hat gelernt: „Was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter!“ oder denkt sogar: „Paul will mich doch nur erpressen - das ist ein Machtspiel, auf das ich mich nicht einlassen darf!“ Ihr Bauchgefühl sagt ihr also womöglich: „Lass' ihn damit nicht durchkommen!“

Wenn Steffi aber in einem Elternkurs oder Erziehungsbuch ein paar Fakten über kindliche Bedürfnisse erfahren hat, kann sie Pauls Tränen viel besser verstehen. Trotzdem braucht sie in dieser Situation auch viel Intuition – kann sie ihrem Paul den „Sprung in's kalte Wasser“ nach ein paar ermutigenden Worten zumuten oder ist es besser, zu warten, bis Anke wieder da ist?

Intuition und Information kombinieren!

Auch in anderen Erziehungsfragen spielt die Kombination von Intuition und Information eine große Rolle. Zum Beispiel bei der Überlegung, ab wann man sein Kind für kurze Zeit allein zuhause lässt. Dabei informiert man sich am besten über offizielle Empfehlungen zur Aufsichtspflicht und Tipps, z.B. welche familiären Absprachen für Notfälle getroffen werden können.

Man fragt sich, wie selbstständig, zuverlässig und absprachefähig das eigene Kind ist, redet mit dem Kind selbst… und trifft die Entscheidung letztlich auf Basis all dieser Informationen, Überlegungen und dem eigenen Bauchgefühl. Fühle ich mich, mit dem Wissen und den Erfahrungen auf die ich zurückgreifen kann, sicher, wenn mein Kind eine halbe Stunde ohne mich zuhause ist? Habe ich den Eindruck, dass mein Kind aktuell dazu in der Lage ist?

Unser Bauchgefühl ist nicht immer ein guter Ratgeber

Das Problem mit dem Bauchgefühl ist, dass es oft von kulturellen oder familiären Erfahrungen und Prägungen überdeckt ist. Die Art, wie wir aufgewachsen sind, beeinflusst stark, wie wir intuitiv mit unseren Kindern umgehen. Wenn wir mit wenig Körperkontakt aufgewachsen sind und ständig gehört haben, dass man Babys bloß nicht verwöhnen darf, dann fühlt es sich womöglich zuerst nicht gut an, das eigene Baby viel zu tragen. Dann ist es wichtig, sich klar zu machen, woher dieses Gefühl kommt und diese familiären Prägungen einmal zu hinterfragen: Kann man Babys überhaupt verwöhnen? Was sind die Vor- und Nachteile vom Tragen? Nur so kann man sich eine eigene Meinung bilden und herausfinden, welcher Weg zum eigenen Kind und einem selbst passt.

Hinzu kommt, dass unser Bauchgefühl oft von eigenen Stimmungen und Gefühlen bestimmt wird. Im letzten Sommer fuhren mein Mann und ich mit unseren Kindern an den Strand. Während wir die Sachen aus dem Auto packten, wartete unser sechsjähriger Sohn mit unserer zweijährigen Tochter neben uns. Sie liefen ein paar Schritte – und plötzlich stand unsere Tochter in einem Graben, ihre Kleidung vollkommen matschig und nass! Offensichtlich hatte unser Sohn sie in den Graben gesetzt. Wir wurden sehr wütend und schimpften ziemlich laut und böse mit ihm. Unser Bauchgefühl sagte uns ganz klar: „Der Junge hat etwas richtig Dummes gemacht! Seinetwegen muss jetzt einer von uns zur Ferienwohnung fahren und neue Klamotten holen! Er muss spüren, wie falsch das war!“ Unser Sohn war so erschrocken, dass er uns erst etwas später erklären konnte, was passiert war: Seine Schwester hatte auf dem Campingplatz hinter dem Graben einen Hund gesehen, den sie gern streicheln wolle. Deshalb hatte er versucht, sie über den Graben zu tragen. Leider war sie zu schwer für ihn, sodass er es nicht geschafft hatte … als wir das hörten, tat es uns ziemlich leid, dass wir einfach auf unser Bauchgefühl gehört hatten, statt zunächst die Fakten zu sammeln.

Wenn du das Gefühl hast, dass dir bei der Arbeit keiner zuhört und deine Vorschläge überhaupt nicht ernst genommen zu wurden, kann es sein, dass du total überreagierst, wenn dein Kind trotz Ermahnung spielt, statt aufzuräumen. Dein Bauchgefühl sagt dir: „Das kann doch wohl nicht sein, dass mir alle auf der Nase herumtanzen! Mein Kind muss wissen, wer hier das sagen hat! Strafe muss sein!“ - und du verbietest deinem Kind die Pizza, auf die ihr euch beide gefreut hattet und sorgst damit für unnötige Enttäuschung.

Strafen bringen in der Regel nicht weiter – siehe Artikel Strafe muss sein? Warum Strafen in der Erziehung wenig taugen
Wenn du hingegen gerade zufrieden und locker bist, sagt dein Bauch dir vermutlich etwas ganz anderes, z.B.: „Er meint es nicht böse! Er war so ein das Spiel vertieft, dass er total vergessen hat, aufzuräumen!“ -  sagst deinem Kind einfach noch einmal klar, dass es jetzt aufräumen muss und gibst ihm, je nach Alter, auch ein wenig Unterstützung. Allein aufräumen ist für die meisten Kinder unter ca. 12 Jahren und sogar für viele Jugendliche nämlich gar nicht so einfach!

Entdecke die richtige Kombination für deine Erziehung

Unser Bauchgefühl ist also alles andere als neutral und zuverlässig. Deshalb haben Erziehungsratgeber, Elternkurse, Beratung und die Tipps von Freundinnen durchaus ihre Berechtigung. Sie sind wichtig – nicht als fertige Rezepte, an die wir uns stumpf halten müssen. Sondern als Impulse, die uns helfen, wichtige Informationen zu erhalten, gut abzuwägen und unser Verhalten zu reflektieren.

Nur wenn wir die wichtigsten Informationen haben, können wir wirklich gut entscheiden, was sich gerade richtig anfühlt. Wenn wir dann alle Fakten bedacht haben, unsere eigenen Einstellungen und Vorurteile hinterfragt haben und immer noch nicht klar sehen, was richtig ist oder ganz verwirrt sind, weil wir zu viele unterschiedliche Tipps bekommen haben – dann ist die Intuition oft eine gute Hilfe: Nun habe ich die wichtigsten Infos und Ideen gesammelt – was von all dem fühlt sich jetzt gerade passend und richtig an?

Kurz gesagt: Gute Erziehung gelingt am besten durch eine Kombination aus Wissen, Selbstreflexion und Intuition.

Ein Tipp zum Schluss

Wenn du dir selbst unsicher bist, nutze unsere >>Online-Beratung hier auf ElternLeben.de.
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