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AD(H)S oder Hochbegabung - Was ist los mit meinem Kind?

Viele Verhaltensweisen, die gemeinhin Kindern mit einer Aufmerksamkeitsstörung AD(H)S zugeschrieben werden, kommen auch bei hochbegabten Kindern vor. Damit steigt das Risiko, dass statt einer Hochbegabung eine Krankheit diagnostiziert wird. Das hat für die Entwicklung der Kinder negative Auswirkungen.

Lesezeit: Etwa 4 Minuten
Junge wirft lachend Blätter in die Luft.

Ist Hochbegabung ein Risiko für psychische Erkrankungen?

Zahlreiche Forscher haben herausgefunden, dass hochbegabte Kinder besonders gute Aussichten haben, psychisch gesund und erfolgreich zu sein. Andere wiederum meinen, dass Hochbegabung an sich eine Belastung werden kann, z.B. durch die asynchrone Entwicklung und erhöhte Sensitivität. Dadurch ergeben sich oft besondere Anforderungen an das Umfeld, z.B. in der Schule.

Unumstritten ist, dass hochbegabte Kinder, die ein passendes Umfeld haben, die die passende Förderung bekommen und die wertgeschätzt werden, erfolgreicher und glücklicher sind als Hochbegabte in einem ungünstigen Umfeld.

Der negativ geprägte Blick: warum es zu Fehldiagnosen bei Hochbegabung kommen kann

Bei vielen Auffälligkeiten bei Kindern neigen Erwachsene dazu, es als „Störung“ oder „Krankheit“ zu sehen. So können auch Verhaltensweisen, die bei hochbegabten Kindern normal sind, als klinisch relevante Symptome für ein AD(H)S interpretiert werden und es kommt zu einer Fehldiagnose. Dies gilt insbesondere für Beobachtungen im schulischen Umfeld: Ist das Kind unaufmerksam oder unterfordert?

Gerade bei hochbegabten Kindern lohnt also ein zweiter Blick. Das gilt auch, wenn Eltern sich für eine psychologische Untersuchung Fachleute suchen. Fehlt dann dem Kinderpsychiater im Bereich Hochbegabung das Wissen oder die Erfahrung, so kann es passieren, dass das Kind eine Diagnose bekommt, die seinen weiteren Lebensweg erschwert. Dazu gehören nicht nur unpassende Therapien, sondern auch der negative Einfluss auf das Selbstbild. Zusätzlich unterbleibt die Förderung der Begabungen, die eigentlich nötig wäre, um die Situation und damit auch die (Verhaltens-) Probleme zu verändern.

Dies gilt auch bei Doppeldiagnosen: Alle fokussieren sich auf die Störung und deren Therapie. Die Begabungsförderung wird als „nicht so wichtig“ angesehen.

Was könnte es noch sein?

AD(H)S ist zu einer Modediagnose geworden. Zum einen ist es gut, dass Kindern inzwischen gut geholfen werden kann, aber auf der anderen Seite versprechen Medikamente auch, man könne die Situation durch eine Pille fürs Kind „heilen“. Eltern fühlen sich oft unter Druck gesetzt, ihr Kind an die Umwelt anzupassen.

Der Verdacht AD(H)S wird schnell ausgesprochen und das Internet ist voll mit Checklisten und Foren mit erregten Diskussionen. Dabei sollten sich Eltern, Lehrkräfte, Kinderärztinnen und Therapeuten bei dem Verdacht drei Fragen stellen 1. „Was spricht für die Diagnose?“, 2. „Was spricht dagegen oder passt nicht ins Bild?“ und 3. „Was könnte es sonst noch sein?“

Wie wird AD(H)S diagnostiziert?

Eine kompetente Diagnose von AD(H)S ist ziemlich umfangreich. In der Familie und in der Schule bzw. Kita sowie im Freizeitbereich werden dann Beobachtungen erfragt. Merkmale von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und mangelnde Impulskontrolle werden anhand von ganz lebensnahen Kriterien beschrieben. Die Anzeichen müssen sich über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) und in mehreren Lebensbereichen zeigen und schon vor dem siebten Lebensjahr begonnen haben.

Die Symptome müssen von mehreren Personen beobachtet werden und deutlich negative Auswirkungen haben. Viele Fragen sind aber unspezifisch, liegen im Ermessen der Beobachter und nehmen die Lebens-umstände zu wenig in den Blick. Es ist ein Unterschied, ob ein Kind beim Essen den Eltern ungestört von seinen Erlebnissen erzählen kann (und will), ob es in der Klasse für dieses Kind zu laut ist und ob die Lehrkraft die Zwischenfragen als störend empfindet.

Bei einer kompetenten Diagnose in einer psychiatrischen Praxis werden dann auch andere Ursachen in Betracht gezogen, vor allem andere psychische Krankheiten. Dem Thema Hochbegabung wird dabei oft wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Normal hochbegabt oder AD(H)S?

Hier sind einige Punkte, an denen es auf die Deutung und Bewertung eines Verhaltens ankommt:

  • Hochbegabte Kinder haben oft viel Energie und verbreiten dadurch Unruhe. Sie wollen dabei aber oft z.B. möglichst viel möglichst schnell erforschen und dieser Drang drückt sich auch in Bewegung aus. Manche Kinder rennen z.B. in einem Museum wirklich erst durch die ganze Ausstellung, bevor sie sich in Ruhe mit einzelnen Stationen beschäftigen können.
  • Wenn ein Kind zu einem Thema viel weiß und davon erzählen will, so platzt es manchmal im Unterricht damit heraus. Oder das Thema ist spannend und das Kind will immer mehr Fragen dazu stellen. Beides kann als mangelnde Impulskontrolle gewertet werden. Dabei bleibt das hochbegabte Kind aber im Thema und es braucht ein passendes Umfeld, z.B. einen kompetenten Ansprechpartner für sich statt einer Gruppensituation. Ältere Kinder könnten auch die Gelegenheit bekommen, ihr Wissen zu einem Thema in Form eines Vortrags oder einer Präsentation darzustellen.
  • Bei Wiederholungsaufgaben machen viele hochbegabte Kinder Flüchtigkeitsfehler, weil sie sich in Gedanken mit anderen Themen beschäftigen. Aber wenn die Aufgaben anspruchsvoller sind, dann sind die Kinder ganz bei der Sache und können sich oft erstaunlich lange konzentrieren.
  • Schaut ein Kind im Unterricht lange aus dem Fenster, so scheint es oft zu träumen. Auf Ansprache wissen aber viele hochbegabte Kinder genau, an welcher Stelle im Text die Klasse gerade ist – auch ohne in das Buch zu schauen.


Es kommt also darauf an, genau hinzuschauen und nicht vorschnell zu urteilen. Dazu braucht es umsichtige und im Thema Hochbegabung erfahrene Fachleute.

Weitere Informationen bekommst du z.B. hier: >>Fehldiagnosen bei hochbegabten Kindern oder im Buch „Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung: Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene“ von James T. Webb.