Format: Artikel – Schreibfeder auf dem Tisch
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„Aber Mama, ich bin doch in der Pubertät“

Autorin - Sabine Wolf

„Papa, lass das. Das ist voll peinlich.“ Ja, Pubertät ist, wenn die Eltern komisch werden. So sehen das unsere Sprösslinge, wenn sie heranreifen. Und der Blick von der anderen Seite ist kaum anders. Wie Außerirdische erscheinen die Jugendlichen manchmal ihren Eltern. Der Abschied von der Kindheit, das Reifen hin zum Erwachsensein ist ein Prozess für die ganze Familie, voller tiefer Emotionen, Verirrungen und Neuordnungen…

Lesezeit: Etwa 7 Minuten
Teenager blickt mit Sonnenbrille in die Kamera

Pubertät - eine Herausforderung für Eltern

Es gibt Jugendliche, die Vieles in dieser mit sich selbst ausmachen oder außerhalb der Familie lebendig werden lassen. Andere Eltern treiben die Konfrontationen über Zimmer, die stinken wie Pumahöhlen, exzessiven Computerkonsum und ständige Grenzüberschreitungen schier in die Verzweiflung. Typ- und temperamentsbedingt stellt sich diese Zeit höchst unterschiedlich dar. Aber immer ist sie für den Jugendlichen sehr anstrengend, denn das einzig Eindeutige sind die ständigen plötzlichen Veränderungen. Und immer spielen mehr oder minder starke Krisen eine Rolle. Diese Krisen als Chance zu sehen, als Chance um zwischenmenschliche Beziehungen neu zu bestimmen, ist vielleicht die abstrakteste aber sinnvollste Aufgabe für Eltern in dieser Lebensphase.

Was brauchen Jugendliche in dieser Phase?

 

Körperliche Veränderungen

Im Gehirn werden jetzt neue bzw. verstärkt Hormone gebildet, die Geschlechtshormone. Diese bewirken das Wachstum der Geschlechtsorgane: beim Jungen wächst der Penis, das Becken der Mädchen wird breiter und die Brust wächst. Das kann besonders bei Mädchen schmerzhaft sein. Haare sprießen an Stellen, die vorher glatt waren. Überhaupt ist es eine Zeit mit teilweise sehr sprunghaften und unproportionalen Wachstumsschüben. Wenn die Jungs mit ihrem noch kleinen Rumpf den langen Armen, Beinen und Füßen ihre Gliedmaßen erst neu koordinieren müssen, sieht das eher schlaksig als cool aus. Die Schweißdrüsen vermehren sich explosionsartig. Unreine Haut und Pickel gehören nicht ins Schönheitsideal, werden mit allen Mitteln bekämpft und senken das Selbstwertgefühl. Die ständigen Hormonschwankungen wirken sich enorm auf das seelische Gleichgewicht aus. Wenn es vorher daheim harmonisch war, gibt es jetzt Schuldgefühle, Gefühle von Einsamkeit und Anderssein. Wenn ich schon viel über Sexualität von Erwachsenen gelernt habe, fühle ich mich jetzt trotzdem dumm und unsicher. Wenn mein Freund oder meine Freundin körperlich viel weiterentwickelt ist als ich, fühle ich mich minderwertig oder schäme mich. Eltern sollten deshalb mitfühlend und sensibel reagieren.

Veränderungen im Gehirn

Im Gehirn finden umfangreiche Umbaumaßnahmen statt. Das erkennen die Eltern vor allem daran, dass ihre Sprösslinge vieles vergessen zu haben scheinen, was einst wie selbstverständlich in ihr Verhaltensrepertoire gehörte. Ziel dieser Hirnentwicklung ist jedoch, dass die Jugendlichen so schnell wie Erwachsene denken können. Es ist wie im Straßenbau: wenn eine Straße mit zwei Fahrbahnen effizienter für den Verkehr gemacht werden soll, dann wird eine 4spurige Autobahn daraus gebaut. Allerdings muss die Strecke während der Bauphase gesperrt werden. Im Grunde ist also Großbaustelle im Gehirn der Jugendlichen. Man könnte ein Schild anhängen: out of order, zumindest zeitweise. Auch die manchmal überschießenden Emotionen der Jugendlichen und ihre Risikobereitschaft hängen mit diesen hirnorganischen Veränderungen zusammen. Anstatt zu glauben: „Mein Kind will mich provozieren“, entspannt es dich in kritischen Situationen eher, wenn du dir sagst: „Mein Kind kann gerade nicht anders.“ 

Ablösung von den Eltern und Freunde als Ersatzfamilie

Die Seele des Kindes ist hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstständigkeit einerseits, und andererseits gehalten von der Angst vor neuen Aufgaben und dem Verlust der geborgenen Kindheit. Werte und die Haltung zum Leben wurden bisher von der Familie geprägt. Jetzt hilft dabei die „Ersatzfamilie“: die Clique. Dort gibt es ein neues Wir-Gefühl mit neuen Regeln. Dabei kann ich die Erfahrung machen „Die sind wie ich, da brauche ich mich nicht schuldig fühlen“.

Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplexe liegen eng beieinander. Für Eltern ist das anstrengend. Manchmal weiß dein Kind alles besser, manchmal wertet es sich schmerzhaft selbst ab: „ich kann das nicht“, „ich bin fett und hässlich“, „mich liebt keiner“. Pubertierende nehmen weder den gut gemeinten Rat ihrer Eltern an noch lassen sie sich trösten oder gar beschützen. Sie machen uns Eltern im wahrsten Sinne des Wortes hilflos. Und genau das fühlen die Jugendlichen häufig selbst: Hilflosigkeit im tosendenden Meer von Gefühlen, Gedanken und Anforderungen.

Die Bewältigung von Aufgaben führt zu Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Hilfst du deinem Kind durch Loslassen und Halt geben, so schreibt Jan-Uwe Rogge in seinem Buch über die Pubertät, kann dein Sohn und deine Tochter erfahren: „Ich bin ok, so wie ich bin. Ich bin wichtig. Ich kann was. Ich werde gebraucht“ und ist so gestärkt, um in ein selbstverantwortliches Leben zu starten.

Was brauchen Eltern in dieser Zeit?

 

Mut zum Streit über Werte und Grenzen

Du bist mit deiner Erziehung während der Pubertät noch lange nicht am Ende. Ganz im Gegenteil. Dein Kind braucht dich. Aber anders als früher. Erziehung hat immer mit Beziehung zu tun, mit beharrlicher, nicht immer harmonischer Beziehungsarbeit. Der Rückzug aus der Erziehungsverantwortung (aus Gefühlen der Enttäuschung oder Resignation) bedeutet für die Jugendlichen Rückzug aus der Beziehung. Sie fühlen sich alleingelassen. Das macht Angst. Bleibe deshalb im Gespräch und zeige, welche Werte und Normen dir wichtig sind. Verhandle neue Grenzen mit deinem Kind. Grenzen sollen nicht beherrschen, sondern leiten und von gegenseitiger Achtung geprägt sein.

Gib Freiräume, wo es sich um ungefährliche Alltagssituationen handelt (Taschengeld, Haarschnitt, Hobbies) und setze Grenzen, wo Gefährdungen der Jugendlichen wahrscheinlicher sind (Drogen, Alkohol etc.). Gleichwertigkeit bedeutet, dass auch Eltern sich an Grenzen halten müssen. Hab Mut zur Auseinandersetzung! Nur dadurch kann ein Jugendlicher zu eigenen Haltungen und Werten finden. Die Heranwachsenden reagieren dabei höchstsensibel auf Misstöne. Sagst du beispielsweise. „Bist du denn völlig durchgeknallt?“ dann folgt nicht selten ein drastischer Gefühlsausbruch oder der Stillstand der Kommunikation.

Pubertierende wollen ganz besonders in Situationen, in denen sie Grenzen überschritten haben, als gleichwertige Person angenommen werden. Kritik an ihrem Verhalten können sie aushalten, solange ihre persönliche Würde respektiert wird. Partnerschaftliche Beziehungen beinhalten aber auch, dass die Heranreifenden die Eltern achten und respektieren. Wenn du deine Bedürfnisse um des lieben Friedens willen zurückstellst, tritt dein Sprössling deine Bedürfnisse bald mit Füßen. Je klarer und selbstreflektierter du deine Werte durchgehend vertrittst, desto authentischer wirkst du und gibst ein Modell fürs Leben. 

Elternfreie Zone

Die Jugendlichen müssen sich selbst finden: Wo können sie das heute noch? Wo doch die Eltern die gleiche Musik hören, im gleichen Sport erfolgreich sind, die gleichen Klamotten tragen und so weiter. Lass Räume zu, in denen dein Kind ohne dich sein kann und Erfahrungen sammeln kann, über die du nicht verfügst. Räume, in denen dein Sohn/deine Tochter glänzen kann, ohne sich mit dir vergleichen zu müssen. Das erfordert von dir die Fähigkeit loszulassen und Misserfolge deines Kindes auszuhalten. Es erfordert eine gehörige Portion Vertrauen. Vertrauen in dein Kind, dass es wieder aufsteht, wenn es hingefallen ist. Vertrauen in dich, dass du deinem Kind alles nötige beigebracht hast, was es zum selbstverantwortlichen Leben braucht. Natürlich kannst du authentisch bleiben. Dein Teenager spürt, wenn du vor Sorge fast vergehst. Sag einfach: „Ich mache mir Sorgen, wenn du da draußen so spät unterwegs bist. Aber ich vertraue dir, dass du dich gut selbst zu schützen weißt.“

Erinnerung und positive Umdeutungen

Sich an die eigene Jugend zu erinnern hilft genauso gut, die heutige Jugend zu verstehen wie auch die Probleme aus einer anderen, positiven Perspektive zu betrachten. Meine 11jährige Tochter brachte mich kürzlich mit ziemlicher Treffgenauigkeit an den Rand meiner Geduld. Bevor meine Emotionen überzukochen drohten, meinte sie mit schelmischem Lächeln: „Aber Mama, ich bin doch in der Pubertät“.  Das hatte ich nun davon, dass sie so gut Bescheid weiß. Aber ihre Reaktion hatte einen deeskalierenden Effekt. Ich knurrte noch kurz, dann mussten wir beide lachen. Humor hilft – und sie hatte Recht. Anstatt in meinem Ärger über mich selbst, über sie und die Ungerechtigkeiten der Welt zu verharren, übte ich mich in der Umdeutung: Was sehe ich Gutes in dieser Situation?

1. Meine Tochter hat genau gemerkt, was sie in mir bewirkt. Sie verfügt also über ausgereifte empathische Fähigkeiten.

2. Sie hat den Punkt erkannt, bevor die Situation hätte eskalieren können.  Sie hat also eine gute Wahrnehmung, kann vorausschauend denken. Sie hat die Fähigkeit, eigene Gefühle zu regulieren, um die Situation im Griff zu behalten.

3. Sie schaffte es, schnell und effektiv die Situation zu entspannen. Sie hat demnach hervorragende deeskalierende Verhaltensmöglichkeiten und setzt sie ein.


Mir wurde klar: Ich habe eine echt tolle Tochter, die mir immer wieder etwas beibringt und mich manchmal mit meinen eigenen Waffen schlägt.
Vielleicht kennst du ähnliche Situationen. Dann sag dir einfach: „Da hab ich wohl etwas gut gemacht in der Erziehung“, lache die Sorgen weg und gönne dir einen frisch gebrühten Tee auf der Couch. Du weißt ja: Es ist alles nur eine Phase – und auch die Pubertät geht vorüber.