Emotionale Intensität – das nennen viele Eltern, wenn man sie fragt, was ihnen bei der Hochbegabung ihres Kindes auffällt. Dabei werden vor allem negative Auffälligkeiten beschrieben: Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle zu regulieren, Schwierigkeiten mit starken Gefühlen anderer klarzukommen und der körperliche Ausdruck von Gefühlen – schreien, weinen, toben.
Dabei hat eine erhöhte Sensibilität auch positive Auswirkungen: Empathie und Mitgefühl für andere, die Fähigkeit für tiefe Freundschaften und eine große Breite an Gefühlwahrnehmungen.
In diesem Artikel erfährst du, wie du dein Kind unterstützen kannst. Die I CAN-Methode ist dafür ausschlaggebend.
Lena (8 Jahre alt) bekommt einen Weinkrampf, „nur“ weil eine Freundin den Besuch absagt. Der elfjährige Till rastet aus, „nur“ weil er beim Rennen den 3. Platz hat – dabei ist er sonst so vernünftig. Was bei einem Kind von sechs Jahren noch als Teil der normalen Reifung gesehen wird, wirkt bei einem zehnjährigen Kind unreif. Bei hochbegabten Kindern, die sich oft wie ältere benehmen (und auch so behandelt werden möchten), fällt es doppelt auf. „Lena heult wie eine Fünfjährige und will ansonsten in der Gruppe der Zehnjährigen mitmachen? Das spricht doch klar gegen eine Hochbegabung, oder?“ Nein, es ist ein Nebeneffekt – und Kindern kann gezielt geholfen werden!
Im Grunde genommen ist die erhöhte Wahrnehmung und der erhöhte Ausdruck von Emotionen ein natürlicher Bestandteil einer Hochbegabung. Offenheit für Erfahrungen heißt: offen für Ideen (Intellekt), Fantasie, offen für Werte, für Gefühle und für anderes Verhalten.
Bei der psychologischen Diagnostik, z.B. in Begleitung eines Intelligenztests wird Hochsensitivität oft vernachlässigt. „Na ja, sie/er ist eben ein wenig überempfindlich.“ Dabei soll die Regulation von Gefühlen „von allein reifen“, „wenn die KInder älter werden“. Gerade hochbegabte Kinder erleben dabei eher und mehr Einflussfaktoren auf ihre Gefühlregulation: Z.B. Perfektionismus, eine unpassende Umgebung in der Schulklasse (z.B. Langeweile), allgemein Neurodiversität (mehrfach außergewöhnlich) und eine erhöhte Wahrnehmung der Welt (z.B. Krieg, Ungerechtigkeit etc.). So sind gerade hochbegabte Kinder, schneller als andere, emotionell überfordert.
Je nachdem, welches Bedürfnis bei deinem Kind im Vordergrund steht, ist es dort besonders empfindlich: Wer sich gern als Teil einer Gruppe sieht, kann, wie Lena in unserem Beispiel, schlecht mit Zurückweisung umgehen. Wer wie Till immer Erster sein will, kann schlecht im Wettbewerb verlieren. Kinder, die sich gerne ganz in eine Sache vertiefen, rasten aus, wenn sie darin gestört werden, z.B. bei Abbruch eines Museumsbesuchs. Andere geraten in Stress, wenn Planungen nicht funktionieren. Die Bedürfnisse der Kinder sind sehr unterschiedlich und Stress kann Gefühlsausbrüche auslösen.
Das Problem sind dabei weniger die Gefühle selbst als vielmehr die fehlende Regulation des emotionalen Zustands. Meistens ist es den Kindern später selbst unangenehm – und am schlimmsten ist das Gefühl, nicht damit umgehen zu können! Die Regulation lässt sich aber mit altersangepassten Methoden von den Kindern lernen und in einer fördernden Umgebung gut praktisch umsetzen.
Emily Kircher-Morris, eine auf Begabungsförderung spezialisierte amerikanische Lehrerin und Beraterin, hat dazu gute Maßnahmen in der I CAN-Methode zusammengeführt. „I can – ich kann das!“ bietet den Kindern selbst einen Leitfaden, ihre Gefühle besser wahrzunehmen, sich mitzuteilen und die Steuerung zu übernehmen. Dieser Leitfaden spricht die Kinder direkt an.
Investigate/Erforschen
Erforsche deine Emotionen, sammle Fakten:
Dabei geht es auch darum, in einer Detektiv-Perspektive ohne Wertung Informationen zu sammeln sowie zwischen Ursache und Ausdruck zu unterscheiden. In normalen Situationen lässt sich besser darüber sprechen.
Ein Journal/Tracker kann dich dabei unterstützen: „Sonntagabends raste ich eher aus, wenn ich meine Dinge nicht zu Ende machen kann. Dann schreie ich jeden an, der in mein Zimmer kommt!“ „Wenn der Wettkampf für die Note wichtig ist, ist es besonders schlimm. Dann könnte ich heulen, wenn ich verliere!“
Communicate/Mitteilen
Baue ein Vokabular auf, um deine Gefühle auszudrücken und für andere nachvollziehbar zu machen. Lerne, die Fehlregulation zu verbalisieren und Strategien zu erklären:
„Ich bin gerade stocksauer, dass du unsere Verabredung absagst. Lass mich erstmal allein zur Ruhe kommen.“ „Der Film war so traurig, mir ist nur nach Weinen. Können wir uns noch zusammen irgendwo hinsetzen.“
Dies ist ein wichtiger Teil die eigene Wirksamkeit und Handlungsmacht zu verbessern, z.B. Unterstützung zu suchen, um Hilfe zu bitten und Lösungen anzubieten.
Activate/Aktivieren
Die Problemlösung muss aktiviert werden, das Wissen allein reicht nicht. Beim Priorisieren oder Überlegen einer Rangfolge hilft manchmal eine Umrechnung in Geld: Was wäre es dir wert, verglichen mit anderen Möglichkeiten?
„Bevor ich nicht mehr an Wettbewerben teilnehme, bei denen ich vielleicht nicht gewinne, brauche ich Fähigkeiten, mit der Niederlage umzugehen. Auch wenn es doof aussieht, wie ich draußen gegen die Wand trete: Es hilft mir!“ „OK, dann weine ich eben im Kino. Lieber Taschentücher mitnehmen und verheult aussehen als das Risiko nicht einzugehen."
Der praktische Einsatz fördert die Reflektion und das Reframing (Neubewertung und Neuausrichtung).
Navigate/Steuern
Mit Methoden aus der Achtsamkeit und erhöhter Selbstwahrnehmung wird das Kind zum Kapitän auf dem eigenen Schiff: Atem zählen oder lange Ausatmen sind kleine Werkzeuge, um der emotionalen Überforderung vorzubeugen. Dabei ist es oft auch hilfreich, dem Kind die wissenschaftlichen Erklärungen (altersgemäß) zu vermitteln. Dies ist auch für Menschen in der Umgebung wichtig, z.B. Lehrkräfte.
„Ich merke jetzt, wie ich in Stress komme, wenn mein Plan nicht klappt. Ich atme dann erstmal ganz tief aus, erst dann überlege ich mir eine Lösung.“ „Wenn mir zu viel Trubel ist, dann schließe ich kurz die Augen und sage mir, dass die anderen jetzt nicht so wichtig sind wie ich selbst."
Die Reihenfolge der vier Schritte ist dabei nicht festgelegt, sondern kann am individuellen Stand des Kindes ansetzen. Wenn z.B. das Vokabular vorhanden ist, aber die selbstgesteuerte Umsetzung noch nicht klappt.
In manchen Fällen ist ein Mentor*in oder Begleiter*in hilfreich. Dies sollten nicht die Eltern sein. Zum einen sind sie oft „Teil des Problems“ durch ihre eigene hohe Sensibilität, zum anderen geht es darum, das Kind in seiner Unabhängigkeit zu fördern. Eltern können das Kind aber bei der Suche nach Mentor*innen unterstützen!
Aus den selbst entdeckten Auslösern und den entwickelten Maßnahmen lassen sich kleine Sticker o.ä. erstellen, die dann z.B. am Kühlschrank oder Schreibtisch oder in der Federmappe schnell angesehen werden können.
I Can – ich kann das!
Schon der Name motiviert und von den Kindern, die sich selbst regulieren können, sollten wir Erwachsenen uns gerne etwas abschauen!