Wenn du stark vermutest, dass dein Kind hochbegabt ist, dann nimmst du manche Verhaltensweisen anders wahr. Ist es seinem Altern weit voraus? Ist das Interesse an diesem Thema alterstypisch? Beschäftigen sich andere Kinder auch so intensiv mit Gedanken und Ideen? Dabei spielt es auch eine Rolle, welches Bild du von Begabung und Hochbegabung hast, welche Vergleichsmöglichkeiten du hast und ob du ein Mädchen oder einen Jungen vor dir hast.
Es gibt keine grundlegenden Unterschiede in der Verteilung der Intelligenz zwischen Mädchen und Jungen. Warum sehen wir dann viel mehr Beispiele für begabte Jungen als für begabte Mädchen? Mädchen sollten doch auch hier die gleichen Chancen haben. Es geht bei der Förderung von Begabungen aller Kinder nicht um eine „Randgruppe“, sondern um die Hälfte der Kinder mit Begabungen!
In diesem Text geht es um geschlechtstypisches Verhalten. Damit ist gemeint, dass nicht alle Jungen oder alle Mädchen sich so verhalten, dass es aber Häufungen gibt. Wenn du die Gelegenheit hast, Mädchen- und Jungengruppen zu erleben, dann wirst du vieles wiedererkennen.
Bei Begabungen gibt es mehrere Schritte, die aufeinander aufbauen. Bei allen spielt es auch eine Rolle, welche Erfahrungen du hast und was dir die Medien an Wissen anbieten.
Nur was du kennst, fällt dir auch wirklich auf. Bestimmt fallen dir gleich einige Talente ein, beispielsweise in Sport oder Musik. Auch altersuntypisches Wissen gehört dazu: Automarken, Gesteinssorten oder Leben im Mittelalter sind für viele Kinder interessante Wissensgebiete. Vielen ist nicht bekannt, dass auch Einfühlungsvermögen, Umgang mit Sprache und Selbststeuerung zu den Bereichen gehören, in denen Kinder sehr begabt sein können.
Einige Begabungen fallen uns also schnell auf und andere leider nicht. Hast du dazu schon Bilder von Kindern im Kopf? Bei „Wissensgebieten“ denken viele eher an einen Jungen, der sich eine Sammlung angelegt hat. Beim „Einfühlungsvermögen“ denken wir eher an ein hilfsbereites Mädchen.
Begabungen, die schnell wahrgenommen werden, werden eher Jungen zugeschrieben. Wenn du eine Mädchenmama oder ein Mädchenpapa bist lohnt es sich für dich, genauer hinzuschauen. Lass dich von den Medien nicht so schnell beeindrucken. Besondere Begabungen können auch anders aussehen oder unsichtbar sein.
Meistens wird ein Intelligenztest durchgeführt, um eine Hochbegabung zu testen. Wie bereits erwähnt ist Intelligenz bei Mädchen und Jungen im Prinzip gleich verteilt. Nun gehen Eltern aber selten in eine psychologische Praxis, weil sie die Begabungen testen lassen wollen. Eher ist es so, dass ein auffälliges problematisches Verhalten den Termin nötig macht. Dieses Verhalten wird bei Jungen eher wahrgenommen und nicht selten bringt der Verdacht auf AD(H)S oder eine Autismus-Spektrum-Störung (z.B. Asperger Syndrom) sie mit den Eltern in eine psychologische Praxis.
Zwei Drittel der Kontaktaufnahmen zu psychologischen Praxen erfolgen wegen auffälliger Jungen. Dabei wird dann manchmal „nebenbei“ eine Hochbegabung festgestellt. Mädchen werden seltener getestet, da sich Probleme bei ihnen in Bauch- und Kopfschmerzen äußern. Damit gehst du sicherlich zur Kinderärztin oder zum Kinderarzt, wo erst alle körperlichen Ursachen ausgeschlossen werden. Sehr selten wird ein psychologischer Test angeraten. Eine Hochbegabung wird also noch weniger vermutet und somit seltener erkannt.
Die problemorientierte Suche nach Begabungen benachteiligt Mädchen. Achte auch auf Mädchen, die etwas besonders gut können oder ihrem Alter voraus sind. Besonders gilt das natürlich für deine Töchter.
Anerkennung ist positive Verstärkung für eine Leistung (oder ein Bemühen um Leistung) aus der Umwelt. Mit unserer Anerkennung verstärken wir wünschenswerte Verhaltensweisen, unabhängig von Begabungen. „Leistung“ ist in unserer Gesellschaft als Ergebnis anerkannt, aber selten der Weg dorthin.
Besondere Begabungen werden nicht immer belohnt. Großes Wissen kommt in der Schule nicht gut an, wenn dein Sohn seine Lehrkraft verbessert oder deine Tochter sich lieber eigene Aufgaben ausdenkt. Wenn es dann noch ein Junge ist, der schon nähen kann, oder ein Mädchen, das ihr Fahrrad reparieren kann, dann ist die Reaktion eher Verwunderung als Anerkennung.
Das Aneignen von Wissen, Forscherdrang und Ehrgeiz brauchen unsere positive Verstärkung. Mädchen neigen dazu, sich lieber in eine Gruppe einzuordnen als herauszustechen. Bevor deine Tochter Neid erzeugt („Streberin!“), hält sie sich lieber zurück. Sie wird wahrscheinlich lieber weniger Leistung zeigen und verzichtet damit auf Anerkennung.
Anerkennung für Leistung benachteiligt Mädchen, die nicht aus ihrer Gruppe herausfallen wollen. Neben der Anerkennung von den Eltern brauchen Mädchen oft eine Gruppe, in der ihre Leistung gefeiert wird. Hier hilft es, wenn das besondere Interesse sie in eine Gruppe führt. Beim Sport oder in anderen Wettbewerben kann das z.B. das Team sein. Auch Trainer und Kursleiterinnen geben oft den nötigen Rückhalt.
Denke einmal an Sport oder Musik, wo junge Talente über Jahre gezielt trainiert werden. Dazu gehört auch, sich motivieren zu können, nicht aufzugeben und Schwierigkeiten zu überwinden. Förderung muss also die ganze Person im Blick behalten und nicht nur das Fachgebiet. Angebote der Begabtenförderung in Schulen richten sich oft an die Kinder mit besseren Noten, wenn also eine Leistung schon sichtbar ist, die in der Schule gefördert werden kann.
Diese Kinder werden von Lehrkräften dann noch aus der Gruppe „aus-gewählt“, um beispielweise an einem Wettbewerb teilzunehmen. Diese Art der Auswahl ist für viele Mädchen sehr unangenehm, weil sie sich von ihrer Gruppe absondern müssen: sie trennen sich von Freundinnen oder ihrer Klasse. Viele Jungen empfinden solche exklusiven Angebote dagegen als Belohnung und Auszeichnung und so hat die Lehrkraft es bestimmt auch gemeint.
Ähnliches gilt für die Teilnahme an Wettbewerben: Während viele Jungen durch diese Art des Wettkampfes motiviert werden, schrecken besonders Mädchen eher zurück. Ob dieses gruppenorientierte Verhalten angeboren oder anerzogen ist, lässt sich kaum sagen.
Viele Fördermaßnahmen passen nicht zu den sozialen Bedürfnissen von Mädchen. Bei Förderangeboten kannst du schauen, ob etwas dabei ist, was den Bedürfnissen deiner Tochter entspricht: Es gibt viele Angebote, die Gruppenzugehörigkeit stärken.
So kann eine AG in der Schule oder ein besonderes sportliches Angebot statt eines „Heraus aus meiner Gruppe“ auch als ein „Hinein in eine neue Gruppe“ Entwicklungen anregen und positiv bewertet werden. Bei vielen Wettbewerben ist auch die Meldung von Teams möglich, so dass deine Tochter sich als Gruppenmitglied einbringen kann.
Die Begabungen deiner Tochter zu finden und zu fördern ist wichtig und macht dir bestimmt viel Spaß, weil du dabei so viel über dich selbst erfahren kannst. Es lohnt sich also doppelt, genauer hinzusehen.