Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind ein Thema, das viele Eltern verunsichert. Wann sind Stimmungsschwankungen noch normal? Wann braucht ein Kind professionelle Unterstützung? Und was können Eltern tun, um ihr Kind bestmöglich zu begleiten? Alix Puhl ist Gründerin von Tomoni Mental Health und selbst Mutter eines Sohnes, der lange unerkannt unter einer psychischen Erkrankung litt. Aus dieser persönlichen Erfahrung heraus setzt sie sich heute leidenschaftlich für die Früherkennung und Unterstützung betroffener Familien ein. Im Interview spricht sie darüber, warum Prävention so wichtig ist, wie Eltern psychische Erkrankungen frühzeitig erkennen können und welche Hilfsangebote Tomoni für Familien bereithält.
Ich engagiere mich für die Früherkennung psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie entscheidend es ist, Anzeichen rechtzeitig zu erkennen. Mein Sohn Emil war witzig, intelligent und sehr eigen – und wir haben zu spät verstanden, dass manche dieser Eigenheiten eigentlich Anzeichen einer psychischen Erkrankung waren. Psychische Erkrankungen beginnen nicht plötzlich, sondern entwickeln sich oft über Jahre oder sind angeboren. Wenn niemand hinsieht, bleiben sie unerkannt. Unerkannt heißt unbehandelt mit Auswirkungen auf das ganze Leben. Ich möchte dazu beitragen, dass Eltern, Lehrkräfte und alle, die mit jungen Menschen zusammen sind, sensibilisiert werden. Denn sie alle können Anzeichen einer Erkrankung erkennen und junge Menschen unterstützen, die nötige Hilfe zu erhalten.
Psychische Erkrankungen gehören weltweit zu den großen Volkskrankheiten, neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Atemwegserkrankungen. Anders als viele andere Krankheiten treten sie schon in jungen Jahren auf: Bereits 50 % der im Erwachsenenalter auftretenden psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 15. Lebensjahr, und 75 % entwickeln sich vor dem 25. Lebensjahr.
In Deutschland sind psychische Erkrankungen weit verbreitet: Jährlich sind etwa 27,8 % der Erwachsenen (rund 17,8 Millionen Menschen) von einer psychischen Erkrankung betroffen. Bei Kindern und Jugendlichen leiden rund 20 % unter einer psychischen Erkrankung.
Genug Schlaf, eine ausgewogene Ernährung, Bewegung und soziale Kontakte sind nicht nur für den Körper, sondern auch für die mentale Gesundheit wichtig. Als Eltern können wir darüber hinaus ein Umfeld schaffen, in dem sich unsere Kinder verstanden fühlen und wissen, dass ihre Sorgen ernst genommen werden. Offen über Gefühle zu sprechen – ohne Bewertung – gibt ihnen Sicherheit und stärkt ihr Vertrauen. Genauso wichtig sind bewusste Pausen von Handy und Computer, um zur Ruhe zu kommen. Wenn wir unseren Kindern Verantwortung zutrauen, sie in ihrer Selbstständigkeit fördern und ihnen den Rücken stärken, helfen wir ihnen, Herausforderungen zu meistern. Und nicht zuletzt: Indem wir selbst gut mit unserer eigenen mentalen Gesundheit umgehen, zeigen wir ihnen, wie wichtig es ist, auf sich zu achten.
Nicht jede traurige Phase oder Laune bedeutet gleich eine psychische Erkrankung – besonders in der Kindheit und Jugend sind Stimmungsschwankungen ein normaler Teil der Entwicklung. Von einer psychischen Erkrankung spricht man, wenn belastende Gefühle oder Verhaltensänderungen über einen längeren Zeitraum bestehen, den Alltag deutlich einschränken und das Wohlbefinden stark beeinträchtigen.
Warnsignale können sein, wenn ein Kind:
Wichtig ist, genau hinzusehen und im Zweifel Unterstützung zu suchen – je früher eine psychische Erkrankung erkannt wird, desto besser kann geholfen werden.
Schuldgefühle sind bei Eltern häufig, wenn ihr Kind eine psychische Erkrankung hat – doch sie sind weder hilfreich noch gerechtfertigt. Psychische Erkrankungen können jeden treffen. Wie psychische Erkrankungen entstehen, weiß man noch nicht 100% gesichert. Die Wissenschaft geht von vielen verschiedenen Einflussfaktoren aus, darunter genetische Veranlagung, Umwelt und individuelle Erlebnisse. Wichtiger als die Frage nach der Schuld ist es deswegen, das Kind zu unterstützen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wir Eltern sollten uns bewusst machen, dass wir unser Bestes geben und niemand perfekt ist. Der Austausch mit Fachkräften, anderen betroffenen Eltern oder eine eigene Beratung kann helfen, Schuldgefühle zu verarbeiten und sich auf das zu konzentrieren, was jetzt zählt: für das Kind da zu sein, Verständnis zu zeigen und gemeinsam einen Weg zur Besserung zu finden.
Wenn du dir Sorgen um dein Kind machst, ist es wichtig, aufmerksam zu bleiben und Veränderungen im Verhalten ernst zu nehmen. Je älter das Kind ist, desto wichtiger ist es, dass der Kontakt nicht abreißt. Sprich offen mit deinem Kind, möglichst ohne Druck oder Vorwürfe, und signalisiere, dass du da bist und zuhörst.
Für uns Eltern gibt es verschiedene Ansprechpersonen, die uns und unseren Kindern helfen können:
Wir können einander auf viele Arten zur Seite stehen. Manchmal hilft ein Blick von außen, um erste Anzeichen zu erkennen, oder die Unterstützung bei der Suche nach professioneller Hilfe macht den entscheidenden Unterschied. Oft reicht es, einfach zuzuhören – ohne sofort eine Lösung parat haben zu müssen. Ein offenes Gespräch, ehrliches Interesse und das Gefühl, nicht allein zu sein, können unglaublich viel bewirken. Auch kleine Gesten wie eine Nachricht, eine Einladung oder bloßes Dasein zeigen, dass jemand gesehen und wertgeschätzt wird. Wir können Angehörige entlasten, eine Mahlzeit vorbeibringen, zu einem Spaziergang einladen oder gemeinsam eine Tasse Tee trinken – und immer wieder da sein. Und nicht zuletzt können wir helfen, Vorurteile abzubauen, indem wir die psychische Gesundheit offen thematisieren und ihr die gleiche Bedeutung geben wie der körperlichen Gesundheit.
Ich würde mich frühzeitig über psychische Erkrankungen informieren und mir ein Grundwissen aneignen, um besser einschätzen zu können, welches Verhalten noch im normalen Rahmen liegt und wann es wichtig ist, genauer hinzuschauen. Der Austausch mit Lehrkräften, anderen Eltern und unserem Umfeld wäre für mich heute viel wichtiger, um Veränderungen oder Warnsignale besser zu erkennen. Vor allem würde ich noch aufmerksamer zuhören, ohne sofort zu bewerten, und stärker versuchen zu verstehen, was in unserem Sohn vorging – ob er unter seinen Gedanken litt und wo er Unterstützung gebraucht hätte. Und ich würde mich meinem Umfeld gegenüber öffnen und von meinen Sorgen erzählen. Denn alleine geht es nicht – es braucht ein ganzes Dorf, um psychische Erkrankungen zu erkennen und damit umzugehen. Und jeder von uns kann Teil des Dorfes sein für jemand anderen.
Um Familien zu unterstützen, haben wir mehr als 5.000 von euch gefragt, was euch fehlt – und die Antwort war eindeutig: Wir alle wissen zu wenig über psychische Erkrankungen. Auch wir als Familie waren kein Einzelfall. Deshalb haben wir bei tomoni (japanisch für „zusammen“) Webinare für Eltern entwickelt, die sich genau mit den Fragen beschäftigen, die uns alle beim Großwerden unserer Kinder begleiten. Unser Ziel ist es, Familien Wissen und Sicherheit zu geben, damit wir gemeinsam ein unterstützendes Umfeld für unsere Kinder schaffen können.
Im Webinar „Pubertät. Oder mehr?“ geht es darum, typische Veränderungen wie Rückzug von der Familie, neue Freundschaften, wechselnden Musikgeschmack oder verändertes Essverhalten besser einzuordnen. Was ist normal, und wann sollten wir genauer hinsehen und Hilfe suchen? Diese Fragen beantworten wir live und interaktiv im Gespräch zwischen einem erfahrenen Elternteil und einer Psychologin oder Psychiaterin.
Ein weiteres Webinar, „Das kleine 1x1 der psychischen Erkrankungen“, stellt die häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugendalter vor. Wir sprechen darüber, welche Anzeichen Eltern wahrnehmen können, wie sich diese Erkrankungen für betroffene Jugendliche anfühlen und was wir als Eltern tun – und auch, was wir lieber lassen sollten.
Die Webinare dauern jeweils 90 Minuten, sind derzeit kostenfrei und über die Homepage von tomoni buchbar.
Unser Angebot richtet sich auch an Jugendliche direkt - mit unserem Podcast “Es braucht das ganze Dorf”. Damit schaffen wir eine Plattform von Jugendlichen für Jugendliche, um über die Erkennung, Prävention und den Umgang mit psychischen Erkrankungen zu sprechen. Der Podcast bringt Jugendliche mit eigenen Erfahrungen im Umgang mit psychischen Erkrankungen (wir nennen sie Expert*innen des Alltags) mit professionellen Fachkräften wie Colin (Psychologin) und Jörn (Kinder- und Jugendpsychotherapeut) zusammen (Expert*innen der Wissenschaft). Alltags-und Wissenschaftsexpert*innen sprechen in jeder Folge auf Augenhöhe miteinander über ein konkretes Thema aus der Lebenswelt von psychisch erkrankten jungen Menschen. Dabei geht es uns nicht um “richtig oder falsch”. Das Ziel ist, anderen Betroffenen und dem Umfeld die Möglichkeit zu geben, ein besseres Verständnis für die jeweiligen Lebenssituationen und daraus entstehenden Verhaltensweisen zu entwickeln.
Unser Podcast ist ein Safe Space, in dem Jugendliche ermutigt werden, über ihre Themen zu sprechen – offen, ehrlich und ohne Tabus. Wir klären auf, sensibilisieren und vermitteln wissenschaftlich fundierte Informationen, ohne zu werten oder auszugrenzen. Unser Ziel ist es, mehr Bewusstsein für mentale Gesundheit zu schaffen und jungen Menschen neue Perspektiven aufzuzeigen. Damit möchten wir sie stärken, sowohl für sich selbst als auch für ihr Umfeld da zu sein und im Bedarfsfall Unterstützung zu leisten.
Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind keine Seltenheit – und sie sind kein Zeichen von Versagen oder mangelnder Erziehung. Alix Puhl von Tomoni Mental Health hat eindrücklich gezeigt, wie wichtig es ist, hinzusehen, zuzuhören und frühzeitig Unterstützung zu holen. Eltern sollten sich nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und mit anderen über ihre Sorgen zu sprechen.
Ihr Appell: „Niemand sollte mit seinen Ängsten und Herausforderungen allein sein. Jede:r kann im Leben von Betroffenen einen Unterschied machen – sei es durch Verständnis, offene Gespräche oder konkrete Unterstützung.“
Mit Tomoni Mental Health setzt sie sich genau dafür ein: Aufklärung, Begleitung und die Stärkung von Familien, damit Kinder und Jugendliche die bestmögliche Unterstützung erhalten.
Wir danken Alix Puhl herzlich für ihre Offenheit und die wertvollen Einblicke, die sie uns in diesem Interview gegeben hat. Ihre ehrlichen Worte und ihr Engagement sind ein großer Gewinn für alle, die mit den Herausforderungen der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen konfrontiert sind.