Format: Artikel – Schreibfeder auf dem Tisch
Artikel

Selbstverletzung bei deinem Kind: Erste Schritte zur Hilfe

Autorin - Melanie Schüer

Hast du den Eindruck, dein Kind verletzt sich selbst? So eine Befürchtung kann große Angst verursachen! Wenn ein junger Mensch sich selbst verletzt, schrillen bei Erwachsenen schnell die Alarmglocken und Hilflosigkeit kann sich breit machen. Du darfst aber gewiss sein: Du bist mit dieser Sorge nicht allein. Selbstverletzendes Verhalten tritt bei etwa 35% der Jugendlichen in Deutschland zumindest kurzzeitig auf und geschieht meist nicht mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Mehr über die Ursachen von Selbstverletzung, die Unterschiede und Verbindungen zu Suizidalität und den richtigen Umgang damit erfährst du hier. 

Lesezeit: Etwa 10 Minuten
Junges Mädchen sitzt melancholisch am Fenster und sieht raus ins Grüne.

Was ist selbstverletzendes Verhalten?

Selbstverletzung bedeutet das absichtliche Herbeiführen einer Verletzung am eigenen Körper. Es ist eine Form der Aggression gegen sich selbst. Meist handelt es sich um das „Ritzen“, also Zufügen von Schnitten durch Rasierklingen, Nadeln, Scherben o.ä. an Armen oder Beinen, teils auch am Oberkörper. In sehr extremen Fällen werden Scherben geschluckt oder Verbrennungen oder Verätzungen herbeigeführt. 

Was bedeutet nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten?

In den allermeisten Fällen geschieht die Selbstverletzung von Kindern und Jugendlichen nicht mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Daher sprechen medizinische Fachleute auch von „nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten“. Bei vielen Betroffenen sind deshalb die Wunden eher oberflächlich – es geht darum, den körperlichen Schmerz zu spüren, sich dadurch wieder selbst wahrzunehmen, wenn die Betroffenen unter dem Gefühl einer inneren Leere leiden.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Selbstverletzung und Suizidgedanken?

Es gibt aber durchaus eine Verbindung zwischen Suizidgedanken und Selbstverletzung. Beide entstehen oft aus einem hohen psychischen Druck und dem Wunsch, dass eine unerträgliche Situation aufhören soll. Bei der Selbstverletzung geht es darum, den Druck und emotionalen Schmerz für eine kurze Zeit durch den körperlichen Schmerz zu überdecken und quasi zu betäuben. Oder eben darum, überhaupt wieder etwas zu spüren, wenn emotionale Belastungen zu einem Gefühl von innerer Leere und Taubheit geführt haben.

Wenn sich auch nach einer gewissen Zeit für die belastenden Schwierigkeiten keine Aussicht auf eine Besserung zeigt, kann es passieren, dass auch Selbstmordgedanken entstehen. Die Hemmschwelle, sich selbst lebensgefährlich zu verletzen, kann dann durch die Gewöhnung an das Ritzen oder andere Selbstverletzungen geringer sein. Dies ist aber eine Folge, die in den meisten Fällen nicht auftritt.

Selbstverletzung erkennen: Typische Anzeichen bei Kindern und Jugendlichen

Kinder und Jugendliche, die sich selbst verletzen, machen dies meist heimlich. Sie schämen sich und haben Angst vor der besorgten oder womöglich auch wütenden Reaktion der Eltern sowie abwertenden Kommentaren von Gleichaltrigen. 

Folgende Anzeichen für Selbstverletzung helfen, das Problem zu erkennen:

  • Dein Kind trägt auffällig oft lange Ärmel oder Hosen, auch dann, wenn es dafür eigentlich viel zu warm ist.
  • Dein Kind zieht sich verstärkt zurück, schließt vielleicht plötzlich die Zimmertür ab oder bleibt auffällig lange im Bad.
  • Dein Kind verhindert, beim Umziehen gesehen zu werden oder mag nicht mehr schwimmen gehen.
  • Am auffälligsten sind natürlich tatsächliche Narben oder Schnitte – meist an Armen oder Beinen, manchmal auch am Oberkörper.
  • Oft zeigen sich auch Stimmungsschwankungen, Traurigkeit oder Reizbarkeit.

Warum verletzen sich Kinder und Jugendliche selbst?

Warum verletzt mein Kind sich selbst? Das ist eine der drängendsten Fragen für Eltern, wenn sie selbstverletzendes Verhalten bei ihrem Kind vermuten. Folgende mögliche Ursachen spielen häufig eine Rolle bei Selbstverletzungen: 

  • Emotionale Überforderung: Diese kann zum Beispiel entstehen, wenn die Betroffenen mit großen Veränderungen wie Trennung der Eltern, Todesfällen, Erkrankungen, Umzügen oder anderen Verlusterfahrungen konfrontiert sind und sich nicht in der Lage fühlen, diese zu verarbeiten. Auch schulischer Druck kann eine Ursache sein – selbst gemachter oder von den Eltern, oft in guter Absicht. 

     

  • Psychische Erkrankungen: Selbstverletzung ist oft eine Begleiterscheinung bei psychischen Erkrankungen. Wesentlich sind dabei vor allem Angststörungen, Depressionen, Zwangsstörungen oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die mit stark schwankender Stimmung, mangelndem Selbstwertgefühl, Problemen in der Impulskontrolle und Selbstverletzung einhergeht. 

     

  • Soziale Schwierigkeiten: Erfahrungen von Ausgrenzung und Mobbing können eine Ursache für selbstverletzendes Verhalten sein. Das Selbstwertgefühl leidet sehr unter diesen Belastungen. Die Ablehnung durch andere kann schnell zur Ablehnung der eigenen Person werden. Der empfundene Druck und Schmerz kann durch Ritzen und ähnliche Verhaltensweisen oft zumindest kurzzeitig betäubt werden – ein Weg, der meist dann gesucht wird, wenn die Betroffenen keine anderen Lösungswege erkennen können. 

     

  • Gruppendruck: Manchmal beginnt das selbstverletzende Verhalten auch aus keiner Notsituation heraus, sondern wegen des Wunsches, dazuzugehören. In manchen Gruppen von Jugendlichen ist das Ritzen phasenweise ein „Trend“ – es kann auch schon reichen, wenn die beste Freund*in dazu überredet, es doch „auch mal auszuprobieren“. Jugendlichen ist die Anerkennung von Gleichaltrigen sehr wichtig und sie haben große Lust, Neues auszuprobieren und Grenzerfahrungen zu machen. Das liegt an der Hirnentwicklung in der Pubertät. Dadurch sind Jugendliche eher bereit, sich zu schädlichen Handlungen überreden zu lassen.

     

  • Weitere unerfüllte Bedürfnisse: Stell dir die Frage, welche Bedürfnisse bei deinem Kind unerfüllt sein könnten und versuche gemeinsam mit deinem Kind einen Plan zu erstellen, wie es sich gut um sich kümmern kann. Bleibe in der liebevollen Führung, denn dein Kind braucht dich jetzt ganz besonders. Dein Interesse, dein Kümmern und dein liebevolles Erinnern signalisiert deinem Kind: Du bist mir wichtig!

Wie spreche ich mein Kind auf die Selbstverletzung an, ohne es zu überfordern?

Dein Kind auf Selbstverletzung anzusprechen, ist sensibel – und oft ein schwieriger Schritt. Mit diesen Tipps kannst du dabei achtsam und liebevoll begleitend vorgehen:

  • Sprich ruhig und ohne Vorwürfe. Wenn du selbst in Panik gerätst, wird dein Kind sich stark unter Druck fühlen und sich höchstwahrscheinlich nicht öffnen können.
  • Zeige deinem Kind, dass du da bist. Oft haben die Betroffenen Angst, dass ihre Eltern überreagieren oder wollen die Eltern nicht belasten. Mache ganz deutlich: „Ich bin für dich da! Ich halte das aus! Mir ist das nicht zu viel.“
  • Wähle eine ruhige Situation unter vier Augen. So fühlt sich dein Kind sicherer und ist eher bereit, sich zu öffnen.
  • Mache vorsichtige Gesprächsangebote. Eine einfühlsame Einstiegsmöglichkeit wäre zum Beispiel: „Hey, hast du kurz Zeit? Weißt du, ich habe in letzter Zeit den Eindruck, dass es dir nicht gut geht. Du wirkst irgendwie belastet und gestresst. Stimmt das?“
  • Lasse deinem Kind Zeit und dränge es nicht. Es geht darum, Gesprächsangebote zu machen – gerne auch wiederholt.
  • Sprich konkrete Beobachtungen an – ohne Druck. Zum Beispiel: „Mir ist aufgefallen, dass du seit einiger Zeit nur noch langärmlige Oberteile trägst. Und dann habe ich eine Rasierklinge auf deinem Nachttisch gesehen. Ich frage mich, ob du dich vielleicht manchmal selbst verletzt. Keine Sorge, ich werde nicht in Panik geraten. Ich möchte einfach gern verstehen, was bei dir los ist.“ 

Wie kann ich als Elternteil konkret helfen, wenn mein Kind sich ritzt oder schneidet?

Grundsätzlich gilt es, Ruhe zu bewahren – auch im Gespräch mit deinem Kind. Höre erst einmal aufmerksam und wertschätzend zu, ohne direkt Lösungen entwickeln zu wollen. Wenn du zu schnell Vorschläge machst oder sogar Forderungen stellst, besteht die Gefahr, dass dein Kind sich unverstanden und unter Druck gesetzt fühlt und sich infolgedessen noch mehr verschließt. Zeige daher vor allem erst einmal Verständnis und achte darauf, auf Schuldzuweisungen zu verzichten.

Wann du dir professionelle Hilfe holen solltest – und wohin du dich wenden kannst

Trotz der Empfehlung, Ruhe zu bewahren, solltest du das Problem natürlich ernst nehmen – und nicht zu lange zögern, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Erste Schritte zur Unterstützung:

  • Nimm das Verhalten deines Kindes ernst – und hole dir frühzeitig Hilfe, wenn du unsicher bist. Warte nicht ab, bis sich das Problem verfestigt.
  • Beginne mit einem Elterngespräch, zum Beispiel bei einer Erziehungsberatungsstelle, einem Schulpsycholog*in oder dem Schulsozialarbeiter*
  • Sprich mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt. Sie können eine erste Anlaufstelle sein, auch wenn Erziehungsberatungsstellen oft spezifischer für psychische Belastungen geschult sind.

 

Wenn dein Kind nicht mit dir spricht:

  • Hole dir auch dann Hilfe, wenn dein Kind nicht mit dir reden will oder sich nach einigen Wochen keine Besserung zeigt.
  • Online-Beratungsangebote können für Jugendliche ein guter Einstieg sein. Manchmal ist die Hemmschwelle online geringer und wenn die Betroffenen dort positive Erfahrungen machen, trauen sie sich den nächsten Schritt zu. www.nummergegenkummer.de, www.jugendnotmail.de 

 

Langfristige Hilfe durch Fachleute:

  • Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen sind auf selbstverletzendes Verhalten spezialisiert. Auch wenn die Wartezeiten länger sind, lohnt sich der Weg.
  • In der Zwischenzeit kannst du Brückenangebote nutzen, z. B. die oben genannten Online-Beratungen oder Gespräche mit Beratungsstellen.

Was tun im Notfall?

Wenn die Selbstverletzung extreme Ausmaße annimmt und vor allem dann, wenn Suizidalität im Raum steht, ist schnelles Handeln gefragt. 

  • Erkundige dich gerne bei eurer kinderärztlichen Praxis, welche Kinder- und Jugendpsychiatrie für euch zuständig ist und melde dich dort.
  • Wenn die Selbstmordgefährdung akut ist (dein Kind also ganz aktuell zugibt, sterben zu wollen und nicht zusagen kann, sich nichts anzutun), darfst du den Notruf 112 wählen und dort um einen Transport in die zuständige Kinder- und Jugenpsychiatrie bitten. Meist werden die Betroffenen dann für wenige Tage stationär aufgenommen, bis sich die akute Gefährdung gelegt hat. Dann können weitere, längerfristige Schritte folgen.

 

Handlungsempfehlungen: Was du im Alltag tun kannst

Neben regelmäßigen Gesprächsangeboten und fachlicher Hilfe spielt auch dein Verhalten im Alltag eine große Rolle. Denn wenn dein Kind sich im Alltag gesehen und wertgeschätzt fühlt, steigen die Chancen, dass es sich dir leichter anvertrauen und Herausforderungen besser bewältigen kann. Dies kannst du tun, um beim Aufbau einer guten Atmosphäre im Alltag zu helfen: 

  • Fördere eine gewisse Alltagsstruktur bei deinem Kind im Sinne von regelmäßigen Schlafenszeiten, gesunder Ernährung und Bewegung. Mit zunehmendem Alter wünschen sich Jugendliche mehr Autonomie und schlafen dann auch gerne mal am Wochenende bis zum Mittag. Das ist völlig in Ordnung, denn in der Pubertät steigt der Schlafbedarf deutlich an. Bewegung kannst du auch fördern, indem du gemeinsame Spaziergänge oder sportliche Aktivitäten vorschlägst. Wie Ernährung und Bewegung deinem Kind zusätzlich helfen können, mit Stress besser umzugehen, erfährst du im Artikel Ernährung und Bewegung: Wie ein gesunder Lebensstil gegen Stress hilft – inklusive alltagstauglicher Tipps für Familien.

     

  • A propos Aktivitäten: Gemeinsame positive Erlebnisse (z. B. Wanderung, Städtetrip, Kinobesuch, Spieleabend, Shopping, Ausprobieren neuer Rezepte) unterstützen eure Bindung und das Wohlbefinden deines Kindes. Auch Jugendliche profitieren von Momenten, in denen sie einen Elternteil mal ganz für sich haben.

     

  • Medien- und Stressmanagement: Achte darauf, mit wie vielen Reizen dein Kind konfrontiert wird. Zumindest bis zum Alter von 15 Jahren empfiehlt es sich, Zeiten vom Medienkonsum noch mit im Blick zu haben. Danach wird das meist schwieriger – dann kannst du aber versuchen, mit deinem Kind bestimmte „medienfreie“ Zeiten zu besprechen, quasi als Ausgleich für mehr Selbstbestimmung beim Medienkonsum. Überlege mit deinem Kind gemeinsam was es tun kann, um auch innerlich mal abzuschalten – sei es Sport, Musik, Malen, Lesen, Hörbücher o.ä. Du suchst nach konkreten Ideen für medienfreie Zeiten? Dann schau dir den Artikel Digital Detox für Kinder: Tipps für gesunde Medienpausen an – verständlich erklärt und mit alltagstauglichen Anregungen für Familien.

     

  • Geduld: Bei allem, was du tust, verzichte so weit wie möglich auf Ungeduld. Wir Eltern wünschen uns bei Sorgen um unser Kind verständlicherweise schnell Verbesserungen – doch jede Veränderung braucht Zeit. 

Vergiss dich selbst nicht: Selbstfürsorge für Eltern

Besonders dann, wenn wir uns Sorgen um unser Kind machen, neigen wir Eltern dazu, unser eigenes Wohlergehen zu vernachlässigen. Doch wenn es dir selbst nicht gut geht, wird sich das auch auf dein Kind auswirken! Und dir wird irgendwann die Puste ausgehen, wenn du deine eigenen Energiereserven nicht regelmäßig auffüllst. Deshalb plane mindestens ein- bis zweimal pro Woche einige Stunden „Me-Time“ ein, wo du neue Kraft tanken kannst. Damit bist du auch ein wichtiges Vorbild für dein Kind in puncto Selbstfürsorge und Stressbewältigung.

Umgang mit Schuldgefühlen

Gerade beim Thema Selbstverletzung können Schuldgefühle bei Eltern eine Rolle spielen. Schnell kommen Fragen auf wie 

  • Warum geht es meinem Kind so schlecht, dass es solche Strategien braucht?
  • Habe ich als Mutter oder Vater etwas falsch gemacht?
  • Hätte ich früher merken können, dass es meinem Kind nicht gut geht?

Diese Fragen zeigen, dass du deine elterliche Verantwortung ernst nimmst. Helfen können sie aber höchstens insofern, als dass du lösungsorientiert schauen kannst, was du in Zukunft verbessern kannst – z. B. deinem Kind mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, mehr Gesprächsangebote zu machen o.ä.

Hilfe für Eltern: Niemand muss alles allein schaffen

Mache dir bitte bewusst, dass Eltern eben auch nur Menschen sind, die unausweichlich Fehler machen. Wir tragen unsere eigenen Verletzungen und Herausforderungen mit uns herum und das führt unvermeidlich dazu, dass wir nicht immer alles richtig und perfekt machen können. Suche deshalb auch gerne Gesprächsmöglichkeiten für dich selbst – sei es in Elterngesprächen bei den genannten Beratungsstellen oder auch in Lebensberatungsstellen, wenn es bei deinen Belastungen nicht nur um die Themen deines Kindes geht. 

Fazit

Lasse dich von den Sorgen nicht überwältigen! Deine Unterstützung ist unheimlich wichtig für dein Kind – und wird ihm helfen, bessere Wege zum Umgang mit Stress zu entwickeln als die Selbstverletzung. Kinder und Jugendliche brauchen keine perfekten Eltern – sie brauchen Eltern, die präsent und liebevoll sind, die Fehler reflektieren und bereit sind, an sich zu arbeiten. Und: Du musst nicht alles alleine schaffen. Es gibt professionelle Hilfe in Form von Beratungsstellen und Psychotherapie – für dich und dein Kind. Gemeinsam könnt ihr so die mentale Gesundheit stärken und Schritt für Schritt neue Perspektiven entwickeln.