Hast du den Eindruck, dein Kind verletzt sich selbst? So eine Befürchtung kann große Angst verursachen! Wenn ein junger Mensch sich selbst verletzt, schrillen bei Erwachsenen schnell die Alarmglocken und Hilflosigkeit kann sich breit machen. Du darfst aber gewiss sein: Du bist mit dieser Sorge nicht allein. Selbstverletzendes Verhalten tritt bei etwa 35% der Jugendlichen in Deutschland zumindest kurzzeitig auf und geschieht meist nicht mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Mehr über die Ursachen von Selbstverletzung, die Unterschiede und Verbindungen zu Suizidalität und den richtigen Umgang damit erfährst du hier.
Selbstverletzung bedeutet das absichtliche Herbeiführen einer Verletzung am eigenen Körper. Es ist eine Form der Aggression gegen sich selbst. Meist handelt es sich um das „Ritzen“, also Zufügen von Schnitten durch Rasierklingen, Nadeln, Scherben o.ä. an Armen oder Beinen, teils auch am Oberkörper. In sehr extremen Fällen werden Scherben geschluckt oder Verbrennungen oder Verätzungen herbeigeführt.
In den allermeisten Fällen geschieht die Selbstverletzung von Kindern und Jugendlichen nicht mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Daher sprechen medizinische Fachleute auch von „nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten“. Bei vielen Betroffenen sind deshalb die Wunden eher oberflächlich – es geht darum, den körperlichen Schmerz zu spüren, sich dadurch wieder selbst wahrzunehmen, wenn die Betroffenen unter dem Gefühl einer inneren Leere leiden.
Es gibt aber durchaus eine Verbindung zwischen Suizidgedanken und Selbstverletzung. Beide entstehen oft aus einem hohen psychischen Druck und dem Wunsch, dass eine unerträgliche Situation aufhören soll. Bei der Selbstverletzung geht es darum, den Druck und emotionalen Schmerz für eine kurze Zeit durch den körperlichen Schmerz zu überdecken und quasi zu betäuben. Oder eben darum, überhaupt wieder etwas zu spüren, wenn emotionale Belastungen zu einem Gefühl von innerer Leere und Taubheit geführt haben.
Wenn sich auch nach einer gewissen Zeit für die belastenden Schwierigkeiten keine Aussicht auf eine Besserung zeigt, kann es passieren, dass auch Selbstmordgedanken entstehen. Die Hemmschwelle, sich selbst lebensgefährlich zu verletzen, kann dann durch die Gewöhnung an das Ritzen oder andere Selbstverletzungen geringer sein. Dies ist aber eine Folge, die in den meisten Fällen nicht auftritt.
Kinder und Jugendliche, die sich selbst verletzen, machen dies meist heimlich. Sie schämen sich und haben Angst vor der besorgten oder womöglich auch wütenden Reaktion der Eltern sowie abwertenden Kommentaren von Gleichaltrigen.
Folgende Anzeichen für Selbstverletzung helfen, das Problem zu erkennen:
Warum verletzt mein Kind sich selbst? Das ist eine der drängendsten Fragen für Eltern, wenn sie selbstverletzendes Verhalten bei ihrem Kind vermuten. Folgende mögliche Ursachen spielen häufig eine Rolle bei Selbstverletzungen:
Emotionale Überforderung: Diese kann zum Beispiel entstehen, wenn die Betroffenen mit großen Veränderungen wie Trennung der Eltern, Todesfällen, Erkrankungen, Umzügen oder anderen Verlusterfahrungen konfrontiert sind und sich nicht in der Lage fühlen, diese zu verarbeiten. Auch schulischer Druck kann eine Ursache sein – selbst gemachter oder von den Eltern, oft in guter Absicht.
Psychische Erkrankungen: Selbstverletzung ist oft eine Begleiterscheinung bei psychischen Erkrankungen. Wesentlich sind dabei vor allem Angststörungen, Depressionen, Zwangsstörungen oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die mit stark schwankender Stimmung, mangelndem Selbstwertgefühl, Problemen in der Impulskontrolle und Selbstverletzung einhergeht.
Soziale Schwierigkeiten: Erfahrungen von Ausgrenzung und Mobbing können eine Ursache für selbstverletzendes Verhalten sein. Das Selbstwertgefühl leidet sehr unter diesen Belastungen. Die Ablehnung durch andere kann schnell zur Ablehnung der eigenen Person werden. Der empfundene Druck und Schmerz kann durch Ritzen und ähnliche Verhaltensweisen oft zumindest kurzzeitig betäubt werden – ein Weg, der meist dann gesucht wird, wenn die Betroffenen keine anderen Lösungswege erkennen können.
Gruppendruck: Manchmal beginnt das selbstverletzende Verhalten auch aus keiner Notsituation heraus, sondern wegen des Wunsches, dazuzugehören. In manchen Gruppen von Jugendlichen ist das Ritzen phasenweise ein „Trend“ – es kann auch schon reichen, wenn die beste Freund*in dazu überredet, es doch „auch mal auszuprobieren“. Jugendlichen ist die Anerkennung von Gleichaltrigen sehr wichtig und sie haben große Lust, Neues auszuprobieren und Grenzerfahrungen zu machen. Das liegt an der Hirnentwicklung in der Pubertät. Dadurch sind Jugendliche eher bereit, sich zu schädlichen Handlungen überreden zu lassen.
Dein Kind auf Selbstverletzung anzusprechen, ist sensibel – und oft ein schwieriger Schritt. Mit diesen Tipps kannst du dabei achtsam und liebevoll begleitend vorgehen:
Grundsätzlich gilt es, Ruhe zu bewahren – auch im Gespräch mit deinem Kind. Höre erst einmal aufmerksam und wertschätzend zu, ohne direkt Lösungen entwickeln zu wollen. Wenn du zu schnell Vorschläge machst oder sogar Forderungen stellst, besteht die Gefahr, dass dein Kind sich unverstanden und unter Druck gesetzt fühlt und sich infolgedessen noch mehr verschließt. Zeige daher vor allem erst einmal Verständnis und achte darauf, auf Schuldzuweisungen zu verzichten.
Trotz der Empfehlung, Ruhe zu bewahren, solltest du das Problem natürlich ernst nehmen – und nicht zu lange zögern, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Erste Schritte zur Unterstützung:
Wenn dein Kind nicht mit dir spricht:
Langfristige Hilfe durch Fachleute:
Wenn die Selbstverletzung extreme Ausmaße annimmt und vor allem dann, wenn Suizidalität im Raum steht, ist schnelles Handeln gefragt.
Neben regelmäßigen Gesprächsangeboten und fachlicher Hilfe spielt auch dein Verhalten im Alltag eine große Rolle. Denn wenn dein Kind sich im Alltag gesehen und wertgeschätzt fühlt, steigen die Chancen, dass es sich dir leichter anvertrauen und Herausforderungen besser bewältigen kann. Dies kannst du tun, um beim Aufbau einer guten Atmosphäre im Alltag zu helfen:
Fördere eine gewisse Alltagsstruktur bei deinem Kind im Sinne von regelmäßigen Schlafenszeiten, gesunder Ernährung und Bewegung. Mit zunehmendem Alter wünschen sich Jugendliche mehr Autonomie und schlafen dann auch gerne mal am Wochenende bis zum Mittag. Das ist völlig in Ordnung, denn in der Pubertät steigt der Schlafbedarf deutlich an. Bewegung kannst du auch fördern, indem du gemeinsame Spaziergänge oder sportliche Aktivitäten vorschlägst. Wie Ernährung und Bewegung deinem Kind zusätzlich helfen können, mit Stress besser umzugehen, erfährst du im Artikel Ernährung und Bewegung: Wie ein gesunder Lebensstil gegen Stress hilft – inklusive alltagstauglicher Tipps für Familien.
A propos Aktivitäten: Gemeinsame positive Erlebnisse (z. B. Wanderung, Städtetrip, Kinobesuch, Spieleabend, Shopping, Ausprobieren neuer Rezepte) unterstützen eure Bindung und das Wohlbefinden deines Kindes. Auch Jugendliche profitieren von Momenten, in denen sie einen Elternteil mal ganz für sich haben.
Medien- und Stressmanagement: Achte darauf, mit wie vielen Reizen dein Kind konfrontiert wird. Zumindest bis zum Alter von 15 Jahren empfiehlt es sich, Zeiten vom Medienkonsum noch mit im Blick zu haben. Danach wird das meist schwieriger – dann kannst du aber versuchen, mit deinem Kind bestimmte „medienfreie“ Zeiten zu besprechen, quasi als Ausgleich für mehr Selbstbestimmung beim Medienkonsum. Überlege mit deinem Kind gemeinsam was es tun kann, um auch innerlich mal abzuschalten – sei es Sport, Musik, Malen, Lesen, Hörbücher o.ä. Du suchst nach konkreten Ideen für medienfreie Zeiten? Dann schau dir den Artikel Digital Detox für Kinder: Tipps für gesunde Medienpausen an – verständlich erklärt und mit alltagstauglichen Anregungen für Familien.
Besonders dann, wenn wir uns Sorgen um unser Kind machen, neigen wir Eltern dazu, unser eigenes Wohlergehen zu vernachlässigen. Doch wenn es dir selbst nicht gut geht, wird sich das auch auf dein Kind auswirken! Und dir wird irgendwann die Puste ausgehen, wenn du deine eigenen Energiereserven nicht regelmäßig auffüllst. Deshalb plane mindestens ein- bis zweimal pro Woche einige Stunden „Me-Time“ ein, wo du neue Kraft tanken kannst. Damit bist du auch ein wichtiges Vorbild für dein Kind in puncto Selbstfürsorge und Stressbewältigung.
Gerade beim Thema Selbstverletzung können Schuldgefühle bei Eltern eine Rolle spielen. Schnell kommen Fragen auf wie
Diese Fragen zeigen, dass du deine elterliche Verantwortung ernst nimmst. Helfen können sie aber höchstens insofern, als dass du lösungsorientiert schauen kannst, was du in Zukunft verbessern kannst – z. B. deinem Kind mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, mehr Gesprächsangebote zu machen o.ä.
Mache dir bitte bewusst, dass Eltern eben auch nur Menschen sind, die unausweichlich Fehler machen. Wir tragen unsere eigenen Verletzungen und Herausforderungen mit uns herum und das führt unvermeidlich dazu, dass wir nicht immer alles richtig und perfekt machen können. Suche deshalb auch gerne Gesprächsmöglichkeiten für dich selbst – sei es in Elterngesprächen bei den genannten Beratungsstellen oder auch in Lebensberatungsstellen, wenn es bei deinen Belastungen nicht nur um die Themen deines Kindes geht.
Lasse dich von den Sorgen nicht überwältigen! Deine Unterstützung ist unheimlich wichtig für dein Kind – und wird ihm helfen, bessere Wege zum Umgang mit Stress zu entwickeln als die Selbstverletzung. Kinder und Jugendliche brauchen keine perfekten Eltern – sie brauchen Eltern, die präsent und liebevoll sind, die Fehler reflektieren und bereit sind, an sich zu arbeiten. Und: Du musst nicht alles alleine schaffen. Es gibt professionelle Hilfe in Form von Beratungsstellen und Psychotherapie – für dich und dein Kind. Gemeinsam könnt ihr so die mentale Gesundheit stärken und Schritt für Schritt neue Perspektiven entwickeln.