Wenn ein Vater psychisch erkrankt, betrifft das die ganze Familie – doch noch immer wird selten offen darüber gesprochen. In diesem ehrlichen Interview erzählt Sebastian Keck, Vater einer Tochter, wie sich seine Angststörung und Depression schleichend entwickelten, warum er sich schließlich Hilfe in einer Klinik suchte und welche Rolle seine Tochter, Therapie und Dankbarkeit auf dem Weg der Heilung spielten. Eine Geschichte, die Mut macht – und zeigt, wie wichtig es ist, über mentale Gesundheit in Familien zu sprechen.
Rückblickend würde ich sagen, hat es damit angefangen, dass ich morgens nach dem Aufstehen schlecht Luft bekommen habe und unterbewusst ein gewisser Druck da war. 2014 nahmen mein Bruder und ich an einer Wettbewerbspräsentation eines Weltkonzerns teil und gewannen einen riesigen Etat. Ich bekam einen Brech- und Würgereiz an Tagen, an denen ich etwas präsentieren musste und dann jeden Morgen. Später wurde immer deutlicher, dass ich nur noch schlecht einschlafen konnte, meist erst gegen 3 Uhr morgens, weil ich ständig Projekte im Kopf geplant habe und in Gedankenschleifen fest steckte aus denen ich selbst nicht mehr rauskam. Abschließend kamen dann Angstzustände und Panik-Attacken dazu. Ich hatte keinen Appetit mehr und nahm 12 Kilogramm ab.
Als meine Tochter 2017 zur Welt kam, ist das Fass einfach übergelaufen. Ich habe unglaublich viel Geld verdient, aber war innerlich völlig ausgebrannt. Die zusätzliche Verantwortung bekam ich einfach nicht mehr in den Griff. Ich schaute nachts, ob sie noch atmet und war in ständiger Sorge und schlief quasi gar nicht mehr. Ich ging zur Therapie, aber der Therapeut war einfach nicht gut und ich hatte eine katastrophale medikamentöse Betreuung.
Als ich keinen Ausweg mehr sah, ging ich 6 Monate nach der Geburt in eine stationäre psychosomatische Klinik. Ich würde das auch jedem empfehlen, der akut Probleme hat. Hier hast du einen Stab an Ärzten und Therapeuten, die dich rund um die Uhr betreuen. Hier können sehr schnell Medikamente ausprobiert werden, Blutspiegel untersucht werden etc. Wir haben oft alle starke Vorurteile gegenüber solchen Kliniken nach dem Motto: Hier sind die Irren. Aber eigentlich sind hier die, die sich helfen lassen, die die schlau genug sind, sich helfen zu lassen. Die Irren rennen da draußen rum!
Es ist völlig klar, dass du mit einer Angststörung und einer Depression eigentlich nicht mehr tragbar bist für ein Familienleben. Ich war also unter der Woche von Montag bis Freitag in der Klinik und arbeitete hart an meiner Gesundheit. Meine Frau musste damals unsere Tochter allein betreuen, wir hatten aber Omas und Opas, die auch da waren. Und am Wochenende kam ich immer heim. Die Klinik war hier sehr hilfsbereit und erlaubte das. Dies ist nicht selbstverständlich, da man hier oft Ärger mit den Krankenkassen bekommt. Ich konnte mich am Wochenende immer besser auf meine Tochter konzentrieren und allein Zeit mit ihr verbringen.
Ich bin großgeworden wie fast alle Männer in Deutschland unter den Nachwirkungen der Kriegsgeneration, die eine große Zerstörtheit in sich trugen. Mein Vater sprach nie über seine Gefühle, hat dies auch nie gelernt, seine Eltern bestraften ihn als er ein Kind war damit, dass sie eine Woche nicht mit ihm sprachen. Das ist für ein Kind fast schlimmer als physische Gewalt. Da er nie eine Therapie machte, führte er dies so fort, wenn er sauer war, sprach er auch mit uns Tage lang nicht oder drohte damit, dass ich aufs Internat müsse.
Die psychischen Schäden eines Krieges ziehen sich bis zu 7 Generationen. Eine ganze Generation wurde damals von Gefühlskrüppeln großgezogen und wurde größtenteils selbst zu Gefühlskrüppeln. Ich habe meinen Vater in meinen 47 Jahren nur ein einziges Mal weinen gesehen.
Meine Mutter hingegen war sehr ängstlich. Wenn du dann noch jahrelang deine Probleme, Sorgen und Gefühle mit Alkohol und Cannabis unterdrückst, ist das Pulverfass bereit zu explodieren. Andere halten das jahrzehntelang scheinbar im Griff, in unserer Gesellschaft wird Alkohol als normal angesehen, besonders auf dem Dorf, wo ich herkomme. Der tägliche Konsum ist hier völlig normal und toleriert. Es ist sogar so, dass du, wenn du keinen Alkohol konsumierst, stark ausgegrenzt wirst. Ich denke aber bei allen wird irgendwann das eigentliche Problem sichtbar und es wird umso schlimmer, umso länger du versuchst den Deckel drauf zu halten.
Ich habe alle Therapieangebote ausprobiert. Eine Verhaltenstherapie, eine analytische Therapie, Einzel- und Gruppentherapie, eine systemische Therapie. Im Grunde muss jede und jeder selbst herausfinden, was gut für einen ist. Das muss man ausprobieren. Auch die Angebote der Kunsttherapie sind vielfältig, Sporttherapie etc. Ich bin der Meinung, dass man anfangen sollte, sehr viel Sport zu machen, das fördert den Serotonin-Spiegel und nach neueren Studien helfen Antidepressiva auch nur in Zusammenhang mit regelmäßiger sportlicher Betätigung.
Ich habe in der Klinik ein hartes Programm durchgezogen mit 3-mal Sport am Tag, 3-mal Einzeltherapie in der Woche und jeden Tag Gruppentherapie, dazu Naturachtsamkeit, Meditation, Ressourcen-Training etc. Ich hatte das große Glück, dass meine Einzeltherapeutin ein wahrer Schatz war. Ich würde so weit gehen, dass die Frau mir das Leben gerettet hat. Sie war sehr breit aufgestellt und hatte von allen Therapieformen was in Petto.
Wir sind meine komplette Historie durchgegangen. 40 Jahre aufzuarbeiten bedarf natürlich eine Menge Zeit. Ich konnte in der Klinik dreimal die Woche Einzeltherapie machen, auch das ist nicht selbstverständlich. Zur optimalen Nachbetreuung ging ich danach noch in eine Tagesklinik hier in Stuttgart und fing langsam wieder an zu arbeiten und mein erstes Buch zu schreiben. So kam ich ganz langsam wieder ins Leben zurück. Ich übernahm aber auch einiges in meinen Alltag: Meditation, Yoga, Boxen, Einzeltherapie mache ich auch heute noch. Ich habe früher Musik gemacht, heute schreibe ich.
Mein zweites Buch „Der Coach aus dem Kinderzimmer“ handelt von den kindlichen Fähigkeiten völlig im Hier und Jetzt zu sein. Kinder besitzen diese Gabe, was wir leider verlernt haben. Wir sind mit unserer Aufmerksamkeit ständig in der Vergangenheit oder in der Zukunft, aber selten im Hier und Jetzt. So heißen übrigens die zwei Ebenen in meinem neuen Buch „Hier“ und „Jetzt“. Meiner Meinung nach wird das zur größten und wichtigsten Herausforderung des 21. Jahrhunderts: den Fokus zu setzen. Wer diese Fähigkeit beherrscht, wird weder eine Depression (Vergangenheit) noch eine Angststörung (Zukunft) bekommen.
Ich bin heute auch Dozent für Werbetext und sehe, dass die junge Generation diese Fähigkeit heute schon viel früher verlernt als wir. Das wird zu enormen psychischen Störungen führen. Der Gesellschaft muss hier was Neues einfallen, mit der heutigen Reizüberflutung, besonders am Handy, wird die neue Generation krank. Wenn das Gesundheitssystem hier nicht präventiv tätig wird, kommen hohe Kosten und Anstrengungen auf uns zu. Meiner Meinung nach müsste es bereits an Schulen die Fächer Mediennutzung und Achtsamkeitstraining stattfinden. Nicht umsonst gibt es auf hohen Management-Ebenen regelmäßig Achtsamkeit-Retreats.
Ein sehr enges. Sie vertraut mir alles an. Wir leben aber heute in zwei Familien. Meine Ex-Frau hat einen neuen Mann und ein neues Kind, Ella‘s Schwester. Ich habe eine neue Lebensgefährtin, die einen Hund hat, den Ella über alles liebt. Sie hat sozusagen 2 Mütter, 2 Väter, 3 Oma‘s und 2 Opa‘s, 3 Onkel, 3 Tanten. „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Dieses bekannte afrikanische Sprichwort wird immer wieder zitiert, um deutlich zu machen: Bildung und Erziehung sind keine Sache allein der Eltern oder der Schule.
So eine Patchwork-Familie kann toll sein, bedarf aber einiges an Organisation und Toleranz, was nicht immer ganz einfach ist. Ich merke, dass meine Tochter heute mit acht Jahren sehr sensibel ist. Sie kümmert sich sehr um ihre Mitmenschen. Diese hohe Sensibilität kann ihr später sehr hilfreich sein, aber auch sehr anstrengend werden, da Gefühle immer wunderschön sind, aber auch eben sehr anstrengend. Ich habe ein ganzes Buch über mich und meine Tochter geschrieben „Der Coach aus dem Kinderzimmer“ - das zeigt ja, wie intensiv ich mich mit der Beziehung zu ihr auseinandersetze. Ich bezeichne sie als Coach, weil ich viel von ihr lernen kann. Man sollte seine Kinder ganz genau beobachten und analysieren, warum sie was und wie machen. Das kann sehr lehrreich sein.
Klar. Sie ist sensibilisiert für dieses Thema. Auch ihre Mutter ging acht Jahre später in eine Klinik, weil sie an einer Depression litt. Ella weiß, was dunkle Wolken sind. Das wird ihr später helfen, mit diesen Themen umzugehen. Ob sie Schäden davonträgt, weiß ich natürlich nicht. Ich kann es mir aber nicht vorstellen, da Eltern auch wegen anderen Krankheiten in Kliniken kommen und das würde ja die Krankheit stigmatisieren, wenn man jetzt sagen würde, alle Kinder haben davon Nachteile. Kinder sind extrem resilient.
Ich bin der festen Überzeugung, dass das Einzige, was zählt, ist die Liebe zu ihnen. Es gibt dazu eine interessante Studie. Eine Holocaust Überlebende, die danach in ein Waisenhaus kam, hat Jahrzehnte später untersucht, was aus den 50 Mädchen wurde, die mit ihr in diesem Waisenhaus waren. Es war erstaunlich, dass nahezu keine von ihnen irgendwelche psychischen Schäden davontrug. Diese heute fast 100jährige Frau hat angefangen, den Lebenslauf der 50 Frauen zu untersuchen, es gab keine Übereinstimmungen, da alle sehr unterschiedliche Leben führten. Die einzige Konstante, die sie herausfand, war, dass ausnahmslos alle nach dem Waisenhaus eine Person fanden (Oma, Opa, Tante, Onkel, Pflegeeltern etc.), die sie aufzog und liebte. Allein das war essentiell für ihr künftiges Leben.
Ich denke, Liebe ist das Rezept, das immer funktioniert. Da meine Ex-Frau und ich unsere Tochter sehr lieben, wird meine Tochter ein gewisses Ur-Vertrauen mitbekommen. Wir sind beide auch sehr körperlich, kuscheln mit unserer Tochter etc. Das ist die Basis für ein Leben. Fehlt das, wird im Leben danach immer etwas fehlen. Mit viel Liebe kommt man durch schwere Zeiten und schwere Zeiten sind wiederrum auch Chancen. Zu scheitern ist auch ein großes Glück, weil man nur so sehr schnell und sehr intensiv neue Dinge erlernt.
Ich mache heute auch noch täglich eine Dankbarkeitsmeditation, das hört sich sehr esoterisch an, aber ich ordne einfach meine Gedanken, weil wir oft ins Negative abrutschen, ohne uns vor Augen zu führen, wie gut es uns eigentlich geht. Das hört sich jetzt sehr simpel an, aber oft ist es das Schwierigste, sehr einfache Sachen umzusetzen.
Ich hatte bei Professor Dr. Hautzinger in Stuttgart Gruppentherapie. Er verdeutlichte uns dies immer sehr handwerklich: Man muss seine negativen Gedanken oft korrigieren und einen Realitäts-Check machen, aufschreiben, ist es wirklich gerade so schlecht und furchtbar, wie mein Kopf mir das suggeriert oder gibt es auch positive Dinge, die mir heute passiert sind.
Eine Depression lügt, sie suggeriert dir auf äußerst perfide Weise, dass alles dem Untergang geweiht ist, aber so schlecht kann es ja meistens gar nicht sein. Klar passieren immer schlimme Dinge im Leben, aber meistens muss man etwas abwarten, dann geht irgendwo eine neue Tür auf, die man gar nicht vermutet hat. Das ist zumindest meine Erfahrung und Sichtweise. Jeden Morgen kommt ein neuer Himmel.
Lieber Sebastian, wir danken dir herzlich für deine Offenheit und die eindrücklichen Einblicke in dein Familienleben mit psychischer Erkrankung. Deine Worte zeigen, wie wichtig es ist, über mentale Gesundheit zu sprechen – gerade als Vater – und wie viel Kraft in der Entscheidung liegt, sich Hilfe zu holen. Wir wünschen dir und deiner Familie weiterhin alles Gute auf eurem Weg.