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Autonomiephase: Warum Trotz bei Kindern wichtig ist

Autorin - Melanie Schüer

„Ich erkenne mein Kind nicht wieder!“ – So geht es vielen Eltern, wenn ihr Kind plötzlich lautstark protestiert, sich gegen alles wehrt und scheinbar nur noch „Nein!“ sagt. Willkommen in der Autonomiephase, auch Trotzphase genannt! Diese Phase beginnt meist um den zweiten Geburtstag herum und endet etwa mit drei Jahren. Dein Kind entdeckt seinen eigenen Willen, testet Grenzen aus und erlebt intensive Gefühle – eine große Herausforderung für euch beide. Oft wird diese Phase auch Trotzphase genannt, weil Kinder in diesem Alter häufiger Wutausbrüche bekommen. Doch wichtig zu wissen: Dein Kind ist nicht „böse“ oder manipulativ – es wird von seinen Emotionen überrollt und braucht vor allem Geduld, Gelassenheit und liebevolle Begleitung. Wie du dein Kind in dieser Zeit unterstützen kannst, warum Trotzreaktionen zur gesunden Entwicklung gehören und was die Hirnforschung dazu sagt – all das erfährst du in diesem Artikel.

Lesezeit: Etwa 8 Minuten
Kleiner Junge mit wuscheligem Haar weint.

Was ist die Autonomiephase?

Die Autonomiephase (oft auch „Trotzphase“ genannt) beginnt bei den meisten Kindern zwischen anderthalb und zwei Jahren und klingt mit etwa sechs Jahren wieder ab. Es ist eine Entwicklungszeit, in der die Kinder einen starken Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung spüren. Sie entdecken nun, was es heißt, selbst etwas zu wollen und stoßen dabei auf Grenzen. Diese Grenzen führen zu Frust und Wut, weil die Kinder sie aufgrund ihrer Hirnentwicklung noch nicht verstehen können, warum etwas nicht so gehen kann, wie sie es gerade gern möchten.

Wir sprechen lieber von „Autonomiephase“ als „Trotzphase“, weil „Trotz“ oft suggeriert, dass hinter dem Verhalten eine boshafte Absicht steckt oder die Kinder die Erwachsenen tyrannisieren wollen. Das ist jedoch nicht der Fall – sondern es ist einfach der starke Wunsch nach Autonomie und die noch nicht fertige Gehirnentwicklung, die zu dem scheinbaren „Trotzverhalten“ führt.

Wie lange dauert die Autonomiephase?

Die Autonomie- oder Trotzphase dauert ca. 4 Jahre. Meistens beginnt die Phase mit etwa 1,5-2 Jahren und endet mit etwa 6 Jahren. Allerdings gibt es dazwischen oft ruhigere und anstrengendere Zeiten. Häufig wechseln sich Wochen bis Monate voller Ausbrüche ab mit „Pausen“, in denen das Kind ausgeglichener ist.

Wie die Hirnforschung die Trotzphase erklärt

Trotzreaktionen bei Kindern hängen stark mit der Entwicklung des Gehirns zusammen. Vereinfacht gesagt gibt es zwei Hauptbereiche: das obere Gehirn, das für Vernunft, Planung und Steuerung zuständig ist, und das untere Gehirn, das von Gefühlen und Instinkten gesteuert wird. Während das untere Gehirn bereits bei der Geburt vollständig entwickelt ist, reift das obere Gehirn erst über viele Jahre hinweg und ist erst mit etwa 25 Jahren vollständig ausgereift.

Warum Selbstkontrolle für Kinder so schwierig ist

Da das obere Gehirn bei kleinen Kindern noch nicht ausgereift ist, fällt ihnen Selbstkontrolle und Impulskontrolle schwer – oft ist sie sogar unmöglich. Das erklärt, warum ein Kind in der Autonomiephase nicht einfach „vernünftig“ sein kann. Es wäre genauso, als würde man von einem Kleinkind erwarten, eine fremde Sprache zu sprechen. Strafen oder Verbote setzen jedoch voraus, dass das Kind absichtlich trotzt – was in diesem Alter nicht der Fall ist.

Warum Kinder trotzen und Strafen wenig helfen

Kinder trotzen nicht, um zu provozieren oder ihre Eltern zu tyrannisieren. Vielmehr übernehmen in bestimmten Situationen starke Emotionen die Kontrolle, da das untere Gehirn dominiert. Besonders gut beschreibt dies die Forschung von Daniel Siegel und Tina Bryson in „Achtsame Kommunikation mit Kindern“. Da ihr Verhalten oft von instinktiven Emotionen gesteuert wird, bringen klassische Strafen wie die „stille Treppe“ oder strikte Verbote gar nichts. Kinder handeln nicht bewusst falsch, sondern werden von ihren Gefühlen überflutet. Statt mit Strafen zu reagieren, hilft es mehr, das Kind zu begleiten, zu beruhigen und seine Emotionen ernst zu nehmen. Wichtig ist es, immer erst eine Verbindung mit dem Kind herzustellen und ihm durch Handeln oder einfache Erklärungen Werte zu vermitteln.

Wie sich die Trotzphase äußert

Wenn sich dein Kind plötzlich auf den Boden wirft, schreit und sich scheinbar nicht beruhigen lässt, erlebst du die Trotzphase hautnah. Früher wurde angenommen, dass Trotz durch mangelnde Autorität der Eltern entsteht. Heute weiß man jedoch, dass die Autonomiephase nichts mit bewusster Auflehnung zu tun hat. Vielmehr entdeckt dein Kind seinen eigenen Willen, ist aber neurologisch noch nicht in der Lage, seine starken Emotionen zu kontrollieren.

Ein Wechselbad der Gefühle

Die Emotionen deines Kindes – ob Freude, Wut oder Ärger – sind intensiv und spontan. In dieser Phase entwickelt es ein erstes Bewusstsein für sein eigenes „Ich“, braucht aber dich als Elternteil, um mit diesen neuen Gefühlen umgehen zu lernen. Auch äußere Faktoren wie Terminstress oder zu viel Medienkonsum können Überforderung auslösen und Wutausbrüche begünstigen.

Warum Wutausbrüche herausfordernd sind

Nicht nur du als Elternteil, sondern auch dein Kind leidet unter seinen eigenen Wutausbrüchen (Trotzanfällen). Oft treten sie verstärkt auf, wenn es müde oder frustriert ist oder wenn du selbst gestresst bist und weniger Geduld aufbringst. Die Trotzphase ist ein Aushandlungsprozess zwischen Eltern und Kind – ein erster Schritt zur Selbstständigkeit. Ein ähnlicher Prozess wiederholt sich später in der Pubertät, weshalb diese auch als „zweite Trotzphase“ bezeichnet wird.

Autonomiephase mit 2-3 Jahren

Im Alter von 2 Jahren, manchmal schon etwas früher, beginnt diese Phase meistens. Hier ist es oft besonders anstrengend, weil die Kinder sich noch nicht oder nicht gut mit Worten ausdrücken können.

  • Am wichtigsten ist es, als Eltern selbst ruhig zu bleiben, sich zu erinnern, dass das Kind sich nicht absichtlich so verhält und selbst gerade überfordert ist.
  • Es ist sinnvoll, kurz zu sagen, welche Gefühle man selbst wahrnimmt (z. B. „Ich merke, dass du wütend bist!“) um das Gefühlsbewusstsein des Kindes zu fördern. 
  • Oft hilft Körperkontakt. Dein Kind signalisiert dir, wann es bereit ist, Körperkontakt zuzulassen.
  • Manchmal hilft es, wenn mit Kindern verhandelt wird. So kann Kindern z.B. eine Wahlmöglichkeit gegeben werden. Dann fühlt sich das Kind ernst genommen und kann in einem vorgegeben Rahmen mitbestimmen.

Autonomiephase mit etwa 4-6 Jahren

Im Alter von 4-6 Jahren gibt es vor allem einen wesentlichen Unterschied: Die größere Sprachkompetenz des Kindes. Das sollte dich allerdings nicht zu langen Diskussionen verleiten, denn das überfordert Kinder auch in diesem Alter noch.

  • Und gerade dann, wenn die Wut stark ist, brauchen auch ältere Kinder erst einmal die Ansprache auf Gefühlsebene. Also, weiter vorleben, wie man Emotionen in Worte fasst („Kann es sein, dass du dich ärgerst?“) und Beruhigung durch kurze, liebevolle Sätze und Angebote von Körpernähe unterstützen.
  • Vor und nach einem Wutausbruch kann man aber in diesem Alter schon gut mit dem Kind reflektieren und ihm helfen, nach und nach einen besseren Umgang mit Frust und Wut zu entwickeln.
  • Man kann sanft das Hineinversetzen in andere fördern, indem man gemeinsam mit dem Kind überlegt, wie sich die anderen Beteiligten fühlen und warum.
  • Man kann eigene Bedürfnisse und Grenzen benennen und erklären und Möglichkeiten zum Umgang mit Wut aufzeigen, wie z. B. auf den Boden stampfen oder in ein Kissen boxen.

Liebevoll durch die Trotzphase – so kannst du dein Kind begleiten

Die Trotzphase kann für Eltern und Kinder herausfordernd sein. Damit du dein Kind gut begleitest, ist es wichtig, zuerst auf dich selbst zu achten:

  • Wie hast du deine eigene Erziehung erlebt?
  • Wie wichtig sind dir Autonomie und Freiheit – für dich und dein Kind?
  • Wie anstrengend ist dein Alltag mit Kleinkind?
  • Hast du genug Pausen und Unterstützung?

Deine eigene Haltung beeinflusst maßgeblich, wie du mit Wutausbrüchen umgehst. Wenn du selbst erschöpft bist, fällt es schwer, gelassen zu bleiben. Auch wenn du in deiner Kindheit vielleicht mehr Strafen als Verständnis erlebt hast, kannst du einen anderen Weg wählen.

Der erste Schritt: Akzeptiere die Trotzphase als natürlichen Teil der Entwicklung – so selbstverständlich, wie dein Kind aus seinen Schuhen herauswächst. Humor, Geduld und Unterstützung durch deine Partnerin oder deinen Partner oder Freunde helfen dir dabei.

Vertiefende Tipps und konkrete Strategien findest du in unserem Handbuch "Liebevoll Grenzen setzen" und im Video-Seminar „Gewaltfrei Grenzen zeigen“.

Praktische Tipps für den Umgang mit Trotz

Es ist völlig normal, dass Kinder in bestimmten Entwicklungsphasen aufbegehren. In diesem Abschnitt findest du hilfreiche Ansätze, um ruhig und bedacht mit Trotzanfällen umzugehen.

  • Sei da für dein Kind. Manchen Kindern hilft es, sie fest in den Arm zu nehmen, damit sie sich wieder selbst spüren können, wenn der Gefühlsausbruch sie überwältigt. Andere Kinder wollen sanft gestreichelt werden oder brauchen Raum für sich – probiere aus, was deinem Kind hilft.
  • Manchmal hilft es, gemeinsam den Raum zu wechseln. Eine neue Umgebung kann dein Kind ablenken und aus seinem emotionalen Tunnel zurückholen.
  • Benenne die Gefühle deines Kindes. Wenn du sagst: „Ich sehe, dass du wütend bist“, hilfst du deinem Kind, seine Emotionen zu verstehen und einzuordnen.
  • Ab etwa drei bis vier Jahren kannst du mit deinem Kind Wut-Techniken üben. In ein Kissen boxen, einen Wutball quetschen oder auf den Boden stampfen sind Möglichkeiten, um angestaute Emotionen abzubauen.
  • Achte auf die ersten Anzeichen eines Wutausbruchs. Müdigkeit, Quengeln oder Nörgeln können Hinweise sein. Mit etwas zusätzlicher Aufmerksamkeit kannst du manche Eskalationen verhindern.

 

Weitere wertvolle Tipps findest du im Artikel "Umgang mit Wutausbrüchen bei Kindern" sowie im Video-Seminar "Wutausbrüche begleiten", das dir praxisnahe Strategien vermittelt.

Warum Trotz auch uns Eltern herausfordert

Trotzreaktionen von Kindern können starke Emotionen in uns Eltern auslösen – oft mehr, als uns lieb ist. Ein Grund dafür liegt in unserer eigenen Erziehung: Viele von uns sind mit dem Gedanken aufgewachsen, dass kindlicher Widerstand unerwünscht oder sogar respektlos ist. Tief verankerte Glaubenssätze aus der Erziehung unserer Eltern und Großeltern wirken unbewusst weiter und lassen uns manchmal übertrieben streng oder frustriert reagieren. Dazu kommt, dass Wutausbrüche oft stressige Alltagssituationen eskalieren lassen – und wir uns plötzlich zwischen Erschöpfung, Hilflosigkeit und Wut wiederfinden. Wichtig ist, sich diese Mechanismen bewusst zu machen und aktiv Wege zu finden, sich selbst zu beruhigen – etwa durch bewusstes Atmen, Muskelentspannung. Z. B. eine einfache körperliche Technik wie das Ballen und Lösen der Faust. Denn unser Kind trotzt nicht, um uns zu ärgern – es kann gerade nicht anders. Wenn du merkst, dass deine Wut überhandnimmt, hilft es, innezuhalten und neue Strategien zu entwickeln.

Mehr dazu erfährst du im Artikel Exitstrategien für Eltern: So bleibst du ruhig in stressigen Momenten.

Fazit

Die Trotz- und Autonomiephase sind wichtige Entwicklungsschritte, in denen Kinder ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit entdecken. Auch wenn diese Zeit oft herausfordernd ist, bietet sie eine wertvolle Gelegenheit, dein Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen. Mit Geduld, Verständnis und klaren Grenzen kannst du deinem Kind helfen, sich sicher in seiner eigenen Identität zurechtzufinden. Denke daran: Wutausbrüche sind ein Teil des natürlichen Wachstumsprozesses, bei dem du als Elternteil eine starke und liebevolle Stütze bist.

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