Schicksalsschläge wie das Sterben eines Angehörigen, der Tod eines Kindes, Krankheit, der Verlust der Heimat, die Trennung vom Partner oder die Trennung der Eltern treffen hart. Wie kann man das in der Familie bewältigen?
Du magst denken, dass zum Beispiel die Diagnose Brustkrebs nicht zu vergleichen ist mit dem Tod der Großeltern und schon gar nicht mit der Trennung von einem Partner. Und natürlich hast du insofern Recht, als dass keine Lebenskrise mit einer anderen verglichen und bewertet werden sollte. Und dennoch vereint all diese Ereignisse nach meiner Auffassung das Thema Verlust. Ein Mann verliert seine Frau, weil sie ihn nicht mehr liebt und damit seinen Lebenstraum. Eine Frau verliert ihre Gesundheit und die Illusion von ewiger Unversehrtheit und sieht sich plötzlich der eigenen Sterblichkeit gegenüber. Ein Mensch stirbt und die Familie verliert einen Teil des Ganzen.Etwas bricht zusammen, eine Lücke entsteht. Die eigene Welt dreht sich nicht mehr wie gewohnt. Dann heißt es Abschied nehmen von dem Menschen, von einer Lebensvorstellung oder von Teilen des eigenen Selbstbildes. Abschied zu nehmen bedeutet sich auf einen Prozess einzulassen, der Zeit braucht. Dies ist der Prozess der Trauer. Um in solchen Lebensmomenten nicht sprachlos zu werden kann es hilfreich sein, zu wissen, welche Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen in derartigen Krisen normal sind, welche vielfältigen Gesichter die Trauer annehmen kann. Das Wissen um die Trauerphasen kann dir helfen, einen guten Umgang mit der Trauer in deiner Familie zu finden.
Bevor du weiterliest, vergegenwärtige dir kurz, dass Abschiede nicht immer an dramatische Situationen gebunden sind. Vielmehr sind sie alltägliche Begleiterscheinungen unseres Lebens. Denke nur an das Abstillen eines Babys, an das Abgeben deines Kindes am ersten Tag der Kita, an den eigenen Auszug aus dem Elternhaus und so weiter. Ja selbst das Schlafengehen am Abend ist für kleine Kinder ein Abschied. So erleben wir ständig kleine und große Abschiede. Diese sind so vielfältig wie das Leben selbst. Sie gehören zum Leben vom Beginn bis zum Ende. Dabei ist jeder Abschied, jeder Verlust in höchstem Maße individuell. Für den Einen ist ein Wegzug von der Heimat möglicherweise eine Katastrophe, für den Anderen eher ein Abenteuer.
Da Abschiednehmen zum Leben gehört, ja beinahe Alltag ist, hat jeder Mensch eine große Anzahl von Bewältigungsressourcen zur Verfügung. Oft tun wir in solchen Situationen einfach das Passende für uns und unsere Lieben, ohne darüber nachzudenken. Auf diese, deine Stärken kannst du vertrauen, wenn dich ein harter Schicksalsschlag trifft. Du schaffst auch diesen zu bewältigen und den Neubeginn zu entdecken, den jeder Abschied birgt.
Die Psychologin Verena Kast spricht von vier Trauerphasen, die ein Mensch bei jeglichen Verlustthemen durchleben kann. Nicht jeder Betroffene erfährt diese Phasen so differenziert, wie sie hier beschrieben werden. Es ist auch keine starre Abfolge. Vielmehr können individuell nur einige dieser Phänomene auftreten oder gar eine Phase beinahe nicht wahrgenommen werden. Egal in welcher Phase sich ein Trauernder befindet, die innerpsychischen Prozesse müssen zudem für Außenstehende nicht sichtbar werden. Dennoch gehören sie zum Erleben und zur Realität des Betroffenen.
Die erste Trauerphase ist die Phase des „Nicht- Wahrhaben- Wollens“. Es ist der Schock des ersten Moments, auch wenn dieser nicht unerwartet kam. Man denkt: „Das ist jetzt nicht wahr. Ich bin im falschen Film.“ Es ist ein Moment der Empfindungslosigkeit oder des Erdbebens im Herzen, völlige Rat- und Hilflosigkeit. Stell dir das Erleben in diesem Augenblick symbolisch wie einen Stein vor: alles erstarrt. Diese Phase ist rein hirnorganisch: das Ereignis erscheint zu plötzlich, zu überwältigend. Es ist das Signal an einen evolutionär sehr alten Teil unseres Gehirns, in Starre zu verfallen. Die Aufgabe dieser Phase ist der Schutz vor zu starken Gefühlen. Dagegen kann man nichts tun. Mitunter haben die Betroffenen das Gefühl, nur noch wie ein Roboter zu funktionieren. Starre, Schweigen, aber auch Unruhe oder Überaktivität können typische Verhaltensweisen dabei sein. Der Körper reagiert mit Schwitzen, Übelkeit oder auch Zittern. Diese Phase kann einige Sekunden dauern aber auch wenige Wochen anhalten. Häufig kannst du dich im Nachhinein nur noch wenig an diese Zeit erinnern. Es ist die einzige Phase, die automatisiert hirnorganisch gesteuert ist. Während die Psyche in den folgenden Phasen hin und her zu springen vermag, gibt es keine Rückkehr in die erste Phase.
Solltest du einer Person zu diesem Zeitpunkt Zuwendung und Hilfe spenden, dann sei einfach nur da und nimm an was ist. Trost ist an dieser Stelle genauso wenig hilfreich wie Entscheidungen abzuverlangen. Selbst die Frage: „Möchtest du Tee oder Saft?“ kann eine Überforderung sein. Lass den Betroffenen nicht allein. Einfach nur präsent zu sein, bereit sein, wenn man gebraucht wird. Das gibt Sicherheit, Schutz und Orientierung. Keine Fragen, keine Ratschläge stellen, einfach alles mit aushalten, ob Weinkrämpfe oder Tränenlosigkeit und auch die eigene Hilflosigkeit. Schau wie viel Nähe oder wie viel Abstand der Betroffene gerade von dir braucht. Manchmal tut eine Umarmung gut, manchmal ist gerade das nicht auszuhalten. Ist ein Mensch in seiner Trauer motorisch sehr unruhig, setzt dich selbst hin und signalisiere mit deinem Körper den Ruhepol. Bewegt sich der Betroffene eine scheinbare Ewigkeit nicht, gehe du und öffne mal das Fenster und führe ihn sanft für einen Moment zur frischen Luft. Respektiere ein Nein. Flüssigkeit in Form von etwas zu trinken ist das einzig wirklich Notwendige in dieser Situation. Wasser ist Leben und bringt die Prozesse zum Fließen.
Nachdem der erste Schock überwunden ist, können nun alle Gefühle herausbrechen, zu denen der Betroffene fähig ist. Ein Beutel voller Murmeln in allen Farben symbolisiert gut diese Phase. Alle, wirklich alle, auch widersprüchliche Gefühle sind Teil der Trauerarbeit und völlig normal in dieser Zeit: Traurigkeit, Freude, Angst, Verzweiflung, Erleichterung, Schuld, Verlassenheit, Wut, Zorn, Sehnsucht, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Scham und so weiter. Je nachdem welcher Charakter- oder Temperamentstyp man ist, differenziert sich das Erscheinungsbild. Manche schreien ihr Leid laut nach außen, andere `fressen alles in sich hinein'. Fragen wie „Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Ich habe das nicht verdient“, kommen leicht auf. Wut auf Gott und die Welt ob der Ungerechtigkeit, was sich auch gegen das Verlorene richten kann: „Wie konntest du mir das antun“. Oder auch Selbstvorwürfe: „Hätte ich doch nur...“. Typisch ist ein häufiger Wechsel von Gefühlen. Es ist wie eine Achterbahn der Gefühle, was äußerst anstrengend ist. Hier zeigt sich deutlich, dass der Körper während des Trauerprozesses Schwerstarbeit leistet. Durch die Bindung der Energien an den Trauerprozess reicht in anderen Bereichen die Kraft nicht mehr. Der Betroffene wird vergesslich, die Konzentrationsfähigkeit lässt nach, die Muskeln werden schlapper, das Immunsystem schwächer. Körperliche Symptome wie Müdigkeit, Ess- und Schlafstörungen, Krankheitsanfälligkeit, plötzliches Weinen, Antriebsschwäche, Muskelschwäche, Atemlosigkeit oder ein Leeregefühl im Magen können auftreten. Ebenso psychische Symptome wie zum Beispiel: Ruhelosigkeit, Verwirrung, Niedergeschlagenheit, Betriebsamkeit, Selbsttäuschungen und Stimmungsschwankungen.
Häufig sucht man nach Schuldigen für diese Situation. Es geschieht nicht selten, das Nebenkampfplätze eröffnet werden: es kommt zu Streit in der Familie oder mit Freunden. Um dieses Gefühlschaos abzustellen kann der Wunsch nach dem eigenen Tod aufflammen oder man missbraucht Substanzen wie Alkohol oder Drogen. Wie lang diese Phase ist und wie intensiv man sie durchlebt ist äußerst unterschiedlich. Es hängt zum einen von der Tiefe und Dauer der Beziehung zum Verlorenen ab, zum anderen von der eigenen Bereitschaft zur Trauerarbeit. Denn das Zulassen der Gefühle hilft, diese Phase zu bewältigen. Unterdrückte Gefühle können zu Schwermut führen und den Abschiedsprozess verlängern oder gar zum Stillstand bringen.
Möchtest du einen Angehörigen in dieser Situation begleiten, dann sei qualitativ da. Es geht nicht um die Menge an Zeit, die du schenkst, sondern sei mit deinem ganzen Herzen da und höre zu. Gib besser keine eigenen Trauererfahrungen zum Besten, denn kein Verlust ist vergleichbar. Nimm auf dich gerichtete Wut nicht persönlich! Es sind nur die hilflosen Aggressionen des Trauerprozesses: wir sind Teil dieser als böse und als ungerecht erlebten Welt. Versuche Schuldgefühle nicht auszureden oder zu verstärken. Nimm sie nur zur Kenntnis. Du kannst auch konkrete Unterstützungsangebote machen. Bedenke, dass diese abgelehnt werden dürfen. Es ist für dich als Begleitperson ebenso ein anstrengender Prozess. Achte daher auf deine Atmung (besonders deine Ausatmung) und sorge gut für dich selbst. Nimm dir Auszeiten oder schlage sie für euch beide vor, um nicht immer über den Verlust zu sprechen. Zum Beispiel könntest du einen Spaziergang vorschlagen. Wenn du dich selbst in einen guten Zustand bringst, kannst du nicht Gefahr laufen, die Achterbahn der Gefühle mitzufahren aufgrund der eigenen Erschöpfung. Am besten du bleibt zu jedem Zeitpunkt authentisch und versuchst nicht, dich für den anderen zu verbiegen. Vertraue darauf, dass der Betroffene genug Fähigkeiten hat, wieder auf die Beine zu kommen und dafür nur Zeit braucht.
In dieser Zeit geht es um eine Auseinandersetzung mit der realen Situation, in dem das Verlorene gesucht und man auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich dabei letztlich selbst findet. Typisch ist eine innere (oder auch äußere) Suche nach irgendetwas. Es ist der Versuch der Psyche, den Verlust zu fassen, begreifen zu können. Du suchst den realen Menschen, Orte mit Erinnerungswert oder durchlebte Situationen. Gewohnheiten des Verlorenen werden übernommen, in Fremden werden bekannte Gesichtszüge gesehen, Betroffene erzählen wiederholt das Gleiche und so weiter. Kinder und Senioren leben diese Phase mitunter sehr bildlich. Das kleine Mädchen, dass im Bett liegt und in die Luft fragt: „Na Papa, wie geht es dir dort oben?“ Oder die Oma, die einen frisch gebrühten Tee auf den Tisch stellt und suchend durch die Wohnung läuft: „Herbert, wo bist du? Der Tee ist fertig.“ Durch Erinnerungen wird ein Teil der Beziehung gerettet. In inneren Zwiegesprächen können noch offene Punkte geklärt werden. Rat kann eingeholt und angenommen werden. Das alles erleichtert die Trauer, macht sie schmerzhaft und schön zugleich. Die Aufgabe dieser Verarbeitungsspanne ist, das, was der nun verstorbene Mensch (beziehungsweise der körperliche Unversehrtheitszustand oder das einstige Lebenskonzept) bedeutet hat, in das bestehende Lebensgefüge neu einzubringen. Das Suchverhalten ist die Vorbereitung auf ein Leben nach dem Verlust. Das Suchen, Finden und das „sich wieder Trennen“ bedeutet den Verlust und damit die Realität klar zu sehen, zu erleben, zu spüren. Der Schmerz, die Traurigkeit, Phasen der Verzweiflung oder depressive Verstimmungen sind immer noch da. Aber es ist eher eine gefasste, tiefe Trauer. Das Rad der Gefühle dreht sich nicht mehr so schnell. Schritt für Schritt kann das Suchen losgelassen werden, in dem die Erinnerungen ertragen werden können. Im Laufe dieser Phase kommt der Augenblick, in dem du eine Entscheidung fällen wirst: ein Ja zum Weiter- Leben oder zum Verharren in der Trauer. Je mehr gefunden wurde, was weitergegeben werden kann, desto eher fällt die Entscheidung für das Leben. Manchmal ist die dunkle Verzweiflung aber auch sehr mächtig. Der Sinn im Leben scheint verloren zu sein. Der Betroffene setzt sich in dieser Phase fest. Die Bedeutung dahinter ist dann, das Verlorene nicht gehen lassen zu wollen. Gedanken an das eigene Sterben können aufflammen. Suizidideen sind hier anders zu werten als noch in der zweiten Trauerphase. Damals war der Wunsch nach innerer Ruhe vorrangig. Jetzt kann es um ein „Nach- Sterben“ um ein „Lieber will ich tot sein, als diesen Verlust zu akzeptieren“ gehen. Diese Phase kann Wochen bis Jahre dauern, je nachdem wie schwer du den Verlust bewertest und wie bereit du bist, dich auf den Verarbeitungsprozess einzulassen.
Sehr hilfreich sind in dieser Phase Rituale. Du kannst ganz individuell Abschiedsrituale entwickeln, die nur für dich und dein Verlorenes von Bedeutung sind oder auch solche, die mehrere Personen einschließen. Das kann ein persönlicher Abschiedsbrief sein, der den Adressaten nie erreichen muss oder eine bestimmte Musik, die in jedem Jahr am gleichen Tag gespielt wird oder das Erstellen eines Fotoalbums oder einer Erinnerungsbox. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Begleitest du Trauernde gilt auch hier wieder: Hör einfach zu, auch wenn du alles schon kennst. Bewerte nicht. Hab Geduld und lass dem Betroffenen Zeit. Dränge nicht nach dem Motto „Begreife, dass es unwiederbringlich ist“, aber unterstütze bei Neuanfängen. Sollte dein Gegenüber häufiger suizidale Äußerungen machen, kannst du dir Beratung bei Fachkräften suchen (z.B. Telefonkrisendienste, Ärzte, Trauerberatungsstellen).
Am Ende des Trauerprozesses ist nicht mehr das gesamte Sinnen des Trauernden auf den Verlust gerichtet. Es geht nicht um ein Loslassen, sondern um eine Integration. Der Verlust wird nicht mehr als Teil der Außenwelt betrachtet, sondern wird Teil des Betroffenen selbst. Das, was du verloren hast gehört zu deiner Biographie ebenso wie die Erfahrung des Verlustes. Das Erleben in dieser Phase kann man mitunter von außen nicht erkennen. Es ist eher ein innerer Prozess. Die Lücke, die durch den Verlust zunächst entstand, wird neu gefüllt: neue Rollen werden entwickelt, Ressourcen werden aktiviert, neue Bindungen können entstehen oder neue Aufgaben übernommen werden. Die Selbstachtung und das Selbstvertrauen steigen. Friede und Ruhe kehren in deine Seele ein. Du kannst wieder nach vorne sehen. Dennoch hat der Trauerprozess Spuren hinterlassen. Besonders nach Erfahrungen mit dem Tod oder schweren Erkrankungen oder Verletzungen berichten viele Betroffene von einer völlig veränderten Einstellung zum Leben.
Ein „Zurückfallen“ in Phase zwei oder drei ist möglich, jedoch von kürzerer Dauer. Als Begleiter ist es sinnvoll, dazu beizutragen, dass der Betroffene auch den Begleiter loslassen kann. Die Verantwortung für sein Leben trägt schließlich jeder selbst. Das bedeutet zu akzeptieren, dass du nicht mehr in der Funktion des Begleiters gebrauchst wirst.
Zum Abschluss noch ein wichtiger Hinweis. Es gibt immer auch gute Gründe, den Trauerprozess nicht zu durchleben. Womöglich lässt es die aktuelle Lebenssituation gar nicht zu. Trauer benötigt Zeit. Vielleicht gibt es dafür gerade aber keine Zeit, weil beispielsweise die Versorgung kleiner Kinder Vorrang hat. Eventuell gibt es genug „Baustellen“ (Krisen, Probleme) und ein Trauerprozess wäre gar eine Überforderung. Die eigene Lerngeschichte spielt ebenfalls eine Rolle: welche Konfliktbewältigungsmuster habe ich gelernt? Wenn ich bei Problemen lieber weglaufe oder den Kopf in den Sand stecke, hält mich dieses Muster davon ab, mich auf den Trauerprozess einzulassen. Mitunter spürt die Psyche, dass sie Hilfe benötigt beim Trauern, aber das soziale Netz funktioniert gerade nicht gut genug. Auch gesellschaftliche Erwartungen und spirituelle Ausrichtungen beeinflussen sehr vorgebend den Trauerprozess und können davon abhalten, sich innerpsychisch zu öffnen.
Das bedeutet: wenn du einen Verlust erlitten hast, du aber irritiert bist, weil du nicht „richtig“ zu trauern vermagst oder das Gefühl hast, da wäre noch etwas zum Aufarbeiten, dann hat das ganz sicher einen Sinn. Dann ist es möglicherweise nicht der richtige Zeitpunkt. Und das ist völlig ok. Du allein bestimmst
Zeitpunkt und Tempo deines höchst eigenen Prozesses.
Kinder in Abschiedssituationen durchleben genau solche prozesshaften Trauergefühle wie Erwachsene. Für sie ist der Tod einer nahen Person ebenso ein Trauerprozess wie die Erkrankung eines Elternteils. Denn häufig ist der Erkrankte verständlicherweise sehr mit sich selbst, mit seinem Verarbeitungsprozess beschäftigt und emotional für das Kind nicht mehr so erreichbar wie vorher. Das Kind erlebt eine Beziehungsveränderung, einen Rückzug, einen Verlust an emotionaler Erreichbarkeit, Stabilität und Sicherheit. Kinder können die gleichen Verhaltensweisen zeigen wie Erwachsene. Darüber hinaus gibt es noch einige Besonderheiten, auf die Rücksicht zu nehmen ist, damit sie nicht fehlinterpretiert werden. Denn auch diese sind völlig normal und in der Regel nur vorübergehend. Da ein Trauerprozess bei Kindern immer auch abhängig von ihrer kognitiven Entwicklung ist, also von ihren Fähigkeiten Dinge zu verstehen, sollen diese kindlichen Reaktionsmuster in Zusammenhang gebracht werden mit kindlichen Vorstellungen von Tod und Sterben in den verschiedenen Altersphasen, so wie sie von der Soziologin Marianne van Kempen beschrieben werden.
Kinder haben bis sie knapp ein Jahr alt sind keine Vorstellungen vom Tod. Aber sie spüren die Veränderungen. Sie wissen noch nicht viel von der Welt. Aber sie verbinden Berührungen, Abläufe, Gerüche und Stimme mit der Hauptbezugsperson als Quelle von Wohlbefinden und Sicherheit. Ist diese Person plötzlich nicht mehr oder nicht mehr so oft da, spürt auch das Baby die Veränderung als Verlust und reagiert mit Irritation. Der Säugling weint vielleicht mehr oder isst nicht mehr wie vorher. Wenn ein Baby schon durchgeschlafen hat, wacht es jetzt wieder häufiger auf.
Kinder unter drei Jahren sprechen von Toten wie von Lebendenden, die nur kurz weg sind. Auch in diesem Alter wissen sie nicht, was Tod bedeutet und begreifen schon gar nicht was Endgültigkeit heißt. Ebenso wie Babys reagieren sie auf wahrgenommene Veränderungen mit Abweichungen in den Ess- oder Schlafgewohnheiten. Darüber hinaus warten und suchen sie die Hauptbezugsperson. Sie können nicht unterscheiden, ob Mama nicht da ist, weil sie arbeitet oder verstorben ist. Da all sein Streben darauf ausgerichtet ist, diese Person zurückzugewinnen, kannst du mitunter starkes Protestverhalten beobachten. Bleibt alles Suchen und Protestieren erfolglos, können sie für einige Zeit mit Verzweiflung und apathischem Verhalten reagieren.
Kinder zwischen 3 und 6 Jahren realisieren langsam den Unterschied zwischen lebenden und unbelebten Dingen. Spielerisch, neugierig beobachten sie die krabbelnde Ameise, das tote Meerschweinchen, den Großvater im Sarg. Sie stellen völlig angstfrei Fragen, wollen den Tod untersuchen, ihn verstehen, so wie sie alles auf dieser Welt verstehen wollen. Einst beerdigten wir den Kanarienvogel einer Freundin. Sie erklärte ihrem 4jährigen Sohn, dass seine Seele nun in den Himmel fliege und ging zurück ins Haus. Ihr Sohn jedoch fing kurz darauf an, den Vogel wieder auszubuddeln. Auf die Frage wieso er das täte, antwortete er: „Du hast doch gesagt, er soll in den Himmel fliegen. Das kann er doch nicht, wenn er in der Erde verbuddelt ist.“ Das ist kindliche Logik, über die Schmunzeln durchaus angebracht ist. Sie stellen Fragen wie: Glaubst du, dass Mama sich bei Regen auflöst?“ Die eigene Sterblichkeit liegt noch völlig außerhalb ihres Horizonts. Tod ist stets etwas, dass bei anderen verortet wird und assoziiert ist mit Dunkelheit und Bewegungslosigkeit. Ein Zustand, der nur eine begrenzte Dauer hat. Machen sie allerdings eine persönliche Erfahrung mit dem Verlust einer nahestehenden Person, bekommt der Tod eine negative Bedeutung. Dann regieren sie mit großer Verstörtheit. Oft fallen sie dann in alte Verhaltensweisen zurück, wie zum Beispiel Daumenlutschen, Einnässen oder mit Trennungsängsten und stark anklammerndem Verhalten. Kinder in diesem Alter sind noch ganz im magischen Denken verhaftet. Sie glauben, dass alle Dinge, die um sie geschehen, irgendwie mit ihnen selbst zu tun haben. Daher fühlen sie sich schnell verantwortlich für das, was passiert: „Papa ist weg, weil ich nicht artig war“.
Kinder zwischen 6 und 9 Jahren lernen allmählich zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Sie suchen nach Ordnungsprinzipien in der Welt um sie herum. Langsam können sie auch die Endgültigkeit verstehen und erlangen eine Vorstellung von dem Begriff Seele. Auf sich selbst können sie das Prinzip von Sterben und Tod nur begrenzt anwenden. Der Tod wird in dieser Phase nicht selten personifiziert. Den Knochenmann kann man sich vorstellen und im Spiel besiegen. Auch eine Vorstellung von Tod als Strafe kann entstehen. Da Phantasie und Realität sich nur langsam voneinander trennen, kommen Alpträume während Trauerverarbeitung häufig vor. Auch ein 9jäjhriger kann vorübergehend wieder einnässen. Trennungsängste und Aufmerksamkeit heischendes Verhalten wie Anklammern, viel Reden oder aggressives Verhalten können gezeigt werden, weil die Kinder Angst vor dem Alleinsein haben. Da der Trauerprozess viel Energie abverlangt, können die Kinder sich in der Schule weniger gut konzentrieren. Lernprobleme sind dann logische Konsequenz. Leistungsdruck ist an dieser Stelle völlig kontraproduktiv.
Ab 9 oder 10 Jahren erkennen die Kinder, dass der Tod etwas Abschließendes ist. Ebenso verstehen sie, dass jedes Lebewesen einmal sterben wird, eingeschlossen sie selbst. Der Tod ist das Gegenteil ihrer Aufgabe zu wachsen und sich zu entwickeln. Sie können mit abwehrendem Verhalten und Rückzug reagieren. Sie möchten von dem ganzen Thema nichts hören. Andere idealisieren den Tod. Manche Teenager schreiben Gedichte darüber oder gehen auf Friedhöfe. Sie suchen die Nähe zum Tod in der bewussten oder unbewussten Hoffnung ihn damit kontrollieren zu können. Sinnfragen tauchen auf: „Gibt es ein Leben nach dem Tod? Welchen Sinn hat Leben im Allgemeinen? Welchen Sinn hat mein Leben?“
Bei schweren Verlusten reagieren pubertäre Kinder nicht selten mit psychosomatischen Symptomen wie beispielsweise Schmerzen, Beschwerden im Magen- Darm- Takt oder auch mit pseudoneurologischen Symptome (wie Bewegungs- oder Wahrnehmungsstörungen). Das Leid der Seele drückt sich über den Körper aus. Etwas, das auch bei Erwachsenen vorkommen kann. Da bei älteren Jugendlichen die Identitätsbildung einhergeht mit dem Ausprobieren verschiedener Rollen und dem Austesten und bewussten Überschreiten von Grenzen, kann besonders in heftigen Trauerphasen der Missbrauch von Drogen oder anderem Risikoverhalten verstärkt werden. Im Rausch kann der Schmerz für kurze Zeit vergessen werden.
Dachten unsere Großeltern noch, dass es besser sei, Kinder vor dem Leid der Erwachsenen und der Welt zu schützen, so denkt die Fachwelt heut ganz anders. Im Zuge der Säuglingsforschung hat man erkannt, dass alle Kinder jedweden Alters Veränderungen spüren und darauf regieren, auch wenn sie diese noch nicht verstehen. Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen der Krankheits- und Trauerbewältigung können durch mangelnde Kommunikation sogar noch verstärkt werden. Stell dir ein Kind vor, dass merkt: „Mama ist ganz anders als früher. Sie weint viel. Und wenn ich etwas frage, reagiert sie manchmal gar nicht. Was habe ich nur falsch gemacht?“. Das Kind bekommt Angst und fühlt sich schuldig, weil nichts mehr so ist wie früher. Wenn dann die Eltern die Tür schließen, um das Kind vor Gesprächsthemen zu schützen, erlebt das Kind ein weiteres Wegschieben und Ausgrenzen. Es fühlt sich allein gelassen von den Personen, die ihm Halt und Sicherheit geben sollten.
Kinder wollen informiert sein. Sie wollen verstehen. Und sie verstehen mehr als du glaubst. Und Kinder sind viel belastbarer als wir Erwachsenen manchmal meinen. Unsere Kinder wollen auch dazu gehören. Deshalb rede mit deinem Kind. Hör ihm zu. Sei präsent aber nicht aufdringlich. So gibst du Halt. Aufklärung schafft keine heile Welt, aber sie gibt Sicherheit und entlastet von Schuldgefühlen. All die oben beschriebenen Reaktionsweisen von Kindern und Erwachsenen sind völlig normal und werden verschwinden, wenn der Trauerprozess beendet ist. Weder du in deiner Trauer noch dein Kind verhalten sich unangemessen. Erkläre deinem Kind, dass sein Verhalten in dieser Lebenssituation ganz normal ist und scheinbar „störendes oder komisches“ Verhalten auch wieder weggeht. Gib euch Zeit und vertrau darauf, dass ihr diese Krise überstehen werdet und daran wachst. Fehlen dir die Worte, recherchiere nach Büchern oder Filmen. Im Internet gibt es eine Menge altersspezifischer Literaturtipps zu den verschiedensten Verlustthemen, ob als Bilderbuch oder Erzählung, als Trickfilm oder Reportage. Wenn du dir mit deinem Kind ein Bilderbuch ansiehst, kannst du aufklären ohne nach den „richtigen“ Worten suchen zu müssen. Zur Aufklärung gehört auch, über medizinische Behandlungen altersentsprechend aufzuklären. Es spricht nichts dagegen, vor einem Krankenhausaufenthalt des Betroffenen dem Kind das Krankenhaus oder einen Teil davon zu zeigen. Schön wäre, wenn der behandelnde Arzt sich die Zeit nehmen würde und dem Kind altersgemäß sagt, was er mit Mama oder Papa tun wird. So bekommt das Kind Vertrauen und Zuversicht.
Für alle Aufklärungsarbeit gibt es keine allgemein gültige Richtlinie. Jede Familie wird ihren eigenen Weg finden. Wichtig ist aus meiner Sicht nur, dass auf das Alter und die emotionale und kognitive Reife des Kindes Rücksicht genommen wird. Sie müssen nicht alle Details wissen, damit sind viele überfordert. Kinder sind auch nicht verantwortlich für die Gefühle der Erwachsenen. Diese Bürde sollten sie nicht tragen. Aber gemeinsam weinen darf man trotzdem und immer ehrlich und authentisch sein: „Ich bin total traurig und weiß gerade nicht weiter. Aber Onkel Ralf kann mir sicher helfen.“ Es geht um die Grundhaltung, die Kinder auch in Lebenskrisen Teil der Familie sein zu lassen und sie zu lehren, dass man Krisen überstehen und gestärkt daraus hervorgehen kann.
Auch wenn nach meiner Erfahrung heutige Eltern schon eher bereit sind mit ihren Kindern über den Tod von Verwandten zu sprechen, sie auch mit zur Beerdigung zu nehmen, so ist das bei Diagnosen wie zum Beispiel Krebs noch anders. Das Thema wird auf emotionaler Ebene tabuisiert oder unterschätzt. Dann macht es Sinn, sich der eigenen Unsicherheit, den eigenen Ängsten zu stellen. Es ist ein Zeichen von Fürsorge, wenn du andere in den Prozess einbeziehst, wenn du selbst strauchelst. Du bist eine gute Mutter, du bist ein guter Vater, wenn du dafür sorgst, dass dein Kind die Unterstützung bekommt, die es braucht, auch wenn du dies im Moment nicht selbst vermagst. So können Freunde, Lehrer oder Erzieher deinen Part als Vertrauensperson vorübergehend einnehmen. Es gibt auch gute Gruppen für Kinder mit dem gleichen Thema, zum Beispiel bei Trennung und Scheidung oder auch Trauergruppen, die professionell angeleitet werden.
Krebs ist eine Familiendiagnose genauso wie der Verlust eines Menschen das ganze Familiensystem wie ein Mobile ins Schwanken bringt. Trauerprozesse vollziehen sich in sozialen Systemen und werden von diesen beeinflusst. Die systemische Sicht auf Trauerarbeit zeigt noch andere, komplexere Zusammenhänge als die Sicht auf den einzelnen Menschen.
Allen Mitgliedern einer Familie wohnt die unbewusste Tendenz inne, das Funktionieren des gesamten Systems auch im Trauerfall zu gewährleisten. Zunächst erleben die Familienmitglieder ein starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit, Nähe und gegenseitiges Verstehen. Bestehende Konflikte rücken in den Hintergrund. Der Verlust wird unbewusst als Bedrohung angesehen. Das Zusammenrücken wirkt stabilisierend. Die Fachautoren nennen dies Trauersymbiose.
Dann kristallisieren sich Differenzen heraus. Rollen werden aufgeteilt. Zum Beispiel wird unausgesprochen festgelegt, wer trauern darf und wer tröstet. Wenn alle gleichzeitig antriebslos in Hoffnungslosigkeit verzweifeln würden, bekäme niemand zu essen oder würde für die Miete sorgen. Das System würde zusammenbrechen. Die Tröstenden stellen eine Sicherheit her, in der die Trauernden sich ihrer tiefen Trauer hingeben können und emotionalen Beistand erhalten. Die Tröstenden scheinen nach außen weniger von der Trauer berührt zu sein und halten die Alltagsabläufe aufrecht. Erstaunlicherweise sind es häufig die Kinder, die die tröstende Rolle einnehmen. Oder sie scheinen zu verschwinden, stellen keine Ansprüche, wollen keine Belastung sein. Daher kommt es, dass Kinder häufiger erst viel später trauern. Nicht selten bahnt sich ihre Trauer andere Wege: beispielsweise wird um ein verstorbenes Meerschweinchen heftiger getrauert als um die eigene Schwester. Das darf man nicht falsch verstehen. Die Gefühle des Verlustes der Schwester werden in das Haustier verschoben, weil sie bei der Schwester nicht gelebt werden konnten. Das geschieht nicht mit Absicht und auch nicht bewusst.
Mit dieser Aufteilung sind in der Regel alle einige Zeit zufrieden. Je länger der Zustand jedoch anhält desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass Konflikte entstehen. Der „Tröster“ ist stark belastet, aufgrund der hohen Erwartungen, die an ihn gestellt werden. Er erhält kaum Dankbarkeit und Unterstützung. Er wird Zielscheibe für Aggressionen, die mit der Trauer zusammenhängen: da werden alte Streitigkeiten hervorgekramt oder es fällt der Vorwurf, gefühllos zu sein, nicht richtig zu trauern. Oder der Tröstende ist schuld, weil er allein durch seine Anwesenheit an das Verlorene ständig erinnert (zum Beispiel, wenn ein Paar ein Kind verliert). Zeigt er eigene Bedürfnisse erfährt er Zurückweisung. „Und was ist mit mir?“, fragt er sich irgendwann. Verlust bedeutet daher eine Herausforderung für die bestehenden Beziehungen. Besonders in der Periode intensiven Schmerzes sind Beziehungen besonders krisenanfällig.
Es kann auch zur Spaltung der Familie kommen: Ein Verstorbener hatte zum Beispiel gute und schlechte Seiten. Ein Teil der Familie sieht den Toten als „schlecht“, der andere Teil idealisiert ihn. So bilden sich Subsysteme, deren Mitglieder gegeneinander kämpfen. Nicht selten geschieht es, dass ein Mitglied die guten Seiten der verlorenen Person lebt und ein anderer die Schlechten. Wie oft erlebte ich in meiner Arbeit mit Alleinerziehenden, dass Mütter sich über das „schlechte“ Verhalten der Kinder beklagen und meinen, er/sie sei wie der Vater. Dies geschieht entweder, weil die Mutter das entsprechende Verhalten (unbewusst) in ihr Kind projiziert. Das Kind, welches ja ein gutes loyales Kind ist wird sich aufgrund sozialer Rückkopplungsprozesse entsprechend der mütterlichen Erwartung verhalten. Oder das Kind lebt eigenmotiviert Anteile des Vaters als Symptom des eigenen Trauerverarbeitungsprozesses oder als Appell, um zu zeigen an welcher Stelle es steht und was es von anderen erwartet. Es kann also in einer Familie zu starken Enttäuschungen und Verletzungen kommen, die die Gefahr bergen, dass das System auseinanderfällt.
Um dem zu begegnen drehen wir wieder das Sprichwort um: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold. Sprecht miteinander, nehmt Rücksicht aufeinander und nehmt nicht jede Aggression persönlich. Ihr wisst doch jetzt, wo die Wut herkommt. Und ihr wisst, es geht wieder vorbei. Schafft euch Räume, in denen jeder seinen Abschiedsprozess leben kann und sucht euch Unterstützung, wo sie Sinn macht. Dann kommt ihr gestärkt aus solcher Krise heraus.