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Erziehung ohne Strafen – Positive Disziplin im Alltag

Gastautorin - Sarah Derkaoui

“Wer nicht hören will, muss fühlen.” Ein Satz, der leider auch heute noch in einigen Familien zum Standard-Repertoire gehört. Dabei funktioniert Erziehung auch ohne Brüllen, Zimmer-Arrest oder schlimmstenfalls dem Klaps auf den Po. Im Ansatz der positiven Disziplin gilt: Wer gutes Verhalten bei seinem Kind fördern möchte, sollte in der Erziehung auf verbale und körperliche Gewalt verzichten.

Lesezeit: Etwa 7 Minuten
Familie tobt ausgelassen auf einer Wiese.

Erziehung ohne Strafen – Stress am Morgen

Positive Disziplin und Erziehung ohne Strafen — das klingt unrealistisch? Stellen wir uns dazu folgende Situation vor: Es ist Montagmorgen, 6.30 Uhr. Naturgemäß sind weder dein Kind noch du wirklich ausgeschlafen. Die Uhr tickt trotzdem erbarmungslos. Du musst ins Büro und für den Nachwuchs beginnt in einer Stunde ein neuer Tag im Kindergarten. Auf deiner Mini- und Mama-Checkliste stehen vorher aber noch ein gesundes Frühstück, das Frischmachen und Zähneputzen im Bad, Anziehen und Lunchbox vorbereiten.

Für unser Beispiel bleiben wir beim Thema Zähneputzen. Wenn es dir geht wie mir, sind jetzt 48 Zähne fällig (Kind hat 20 und Weisheitszähne habe ich nicht mehr). Während Zähneputzen bei uns Erwachsenen nun wirklich keine große Aktion ist, löst alleine der Gedanke von Zahnpasta und einem faserigen Plastikgegenstand im Mund bei manchen Kindern Alarmstufe Rot aus. So auch in diesem Fall. Du spürst, wie dein Stresspegel steigt und du immer ungeduldiger wirst.
Tipp: Lies hierzu unseren Artikel So gelingt auch Morgenmuffeln der Start in den Tag

Positive Disziplin – Die Alternative zu Strafen

Was wäre an diesem Punkt deine normale Reaktion? Wir sind alle nur Menschen. Wir alle machen Fehler. Und wahrscheinlich sind viele von uns im morgendlichen Stress auch schon mal laut geworden. Oder haben im Namen der Zahnhygiene von Zahncreme mit Erdbeergeschmack bis (liebe Zahnärztinnen, bitte wegschauen!) Kinderzahnpasta mit Cola-Aroma (!) alle verfügbaren Register gezogen. Oder in wachsender Verzweiflung Zahnbürsten in vielen Regenbogenfarben angesammelt, die jeweils das Konterfei verschiedener Cartoon-Charaktere zierte. Hat all das geholfen? Zumindest bei uns nicht wirklich. Zähneputzen blieb der morgendliche Stressfaktor Nummer Eins. Vor allem an Werktagen.

Letztendlich bin ich auf einen Artikel über Jane Nelsen gestoßen. Die Amerikanerin brachte bereits 1981 ein Buch heraus, das die Philosophien von Rudolf Dreikurs und Alfred Adler weiterentwickelte. Dreikurs und Adler hatten das Ziel, eine lebensnahe Psychologie zu etablieren, die in einer Erziehung zur Freiheit sichtbar wird. Das bedeutet: Indem Eltern sowohl auf übertriebene Strenge verzichten, als auch unverhältnismäßiges Verwöhnen unterlassen, fördern sie in ihrem Kind langfristig den Sinn für Gemeinschaft, Selbstständigkeit und Verantwortungsgefühl. Laut Adler und Dreikurs legen Eltern durch ihr Erziehungsverhalten bei ihren Kindern die Basis für eine gesunde (oder gestörte) seelische Entwicklung.

Die Auffassung von Dreikurs und Adler, kindliches Fehlverhalten sei nicht als böser Wille zu interpretieren, sondern als schlichter “Ausrutscher” aufzufassen, ist die Grundlage für eine Erziehung, die Positive Disziplin praktisch umsetzt. Jane Nelsen erklärt die fünf Kriterien der Positiven Disziplin so:

Positive Disziplin

  1. bedeutet, gleichzeitig freundlich und bestimmt zu kommunizieren
  2. hilft deinem Kind, sich aufgehoben und mit dir verbunden zu fühlen
  3. ist eine effektive Langzeit-Strategie, die die Gefühle deines Kindes und seinen Platz in dieser Welt berücksichtigt — und Kindern dadurch hilft, zu erkennen, was ihnen und der Gesellschaft gut tut
  4. lehrt Kindern die Wichtigkeit von Empathie, Kooperation und Respekt
  5. ermutigt Kinder, herauszufinden, was sie alles schon können — und diese Fähigkeiten konstruktiv zu nutzen

Positive Disziplin im Alltag umsetzen — so geht’s!

Am besten machen wir das ganz konkret an unserem Beispiel vom morgendlichen Zähneputzen. Wenn wir Jane Nelsen, Rudolf Dreikurs und Alfred Adler Glauben schenken möchten, steckt hinter den meisten “Ungehorsamkeiten” unseres Nachwuchses keine böse Absicht. Wir als Eltern haben die Aufgabe, das zugrundeliegende Problem zu identifizieren und an dieser Stelle mit der Lösung zu beginnen. Dann wird auch klar, warum Strafen in der Erziehung wenig taugen.

Bei uns hat sich herausgestellt, dass Zähneputzen und Co. besser klappen, wenn wir (sprich: ich!) nicht unter Zeitdruck stehen. Nachteil: Ich muss an Werktagen früher aufstehen. Vorteil: Ich reagiere gelassener und spare mir den gehetzten Blick auf die Uhr. Ohne Hektik, Druck und Stress spielt es plötzlich keine große Rolle mehr, welchen Geschmack die Zahnpasta hat und ob die Zahnbürste rosa oder grün-lila gestreift ist. Unser Problem war nicht mein Kind, sondern ich: Die hektische Mama, die ihr noch halb schlafendes Kind ins Bad bugsiert und erwartet, dass ein schläfriges Murmeltier sich widerstandslos die Beißerchen reinigen lässt.

In den Worten der Verfechter Positiver Disziplin: Es gibt keine schlechten Kinder, sondern nur schlechtes Verhalten — und selbst daran sind die Kinder oft gar nicht schuld. An einer anderen typischen Situation aus dem Alltag mit Kindern lässt sich Positive Disziplin als Erziehungsmethode ebenfalls zeigen: Die fünfjährige Marie hat ihre Freundin gehauen, weil diese ihre Kekse nicht mit ihr teilen wollte. Die Standard-Eltern-Reaktion? Das Kind zurechtweisen, Enttäuschung zeigen, schimpfen.

Stattdessen kannst du versuchen, deinem Kind ruhig zu erklären, dass seine Reaktion nicht in Ordnung war. Idealerweise gibst du deinem Kind in diesem Zusammenhang einen Ausweg. Das heißt, du zeigst deinem Kind, wie es sein Fehlverhalten wiedergutmachen kann. “Ich glaube, Lisa ist jetzt ziemlich traurig. Möchtest du dich sofort bei ihr entschuldigen oder willst du dich erst einmal kurz zu mir setzen, bis du bereit dafür bist?” ist eine Möglichkeit, deinem Kind eine Wahl zu geben. So hat dein Kind das Gefühl, die Kontrolle über die Situation zu haben und du bietest keine Plattform für Trotz oder Machtkämpfe.

Empathie und Positive Disziplin

Auch Empathie zu zeigen, ist aus mehreren Gründen in solchen Situationen wichtig. Erstens, weil wir als Eltern versuchen sollten, die Ursachen für das Verhalten unserer Kinder zu verstehen. Je nach Temperament ist es normal, dass bei einem kleinen Kind die Frustration hoch ist, wenn die/der Freund/in nicht teilen möchte. Wir müssen Strategien anbieten, mit diesen Gefühlen umzugehen, ohne anderen zu schaden.

Zweitens ist es fundamental, dass wir unseren Kindern beibringen, sich in andere hineinzuversetzen: “Ich glaube, du hast Lisa sehr wehgetan.” Manchmal hilft es, den Nachwuchs an Situationen zu erinnern, in denen er selbst von einem Kind angegriffen wurde oder sich beim Spielen verletzt hat — und darauf hinzuweisen, wie er sich in diesem Moment gefühlt hat.

Indem wir die Aufmerksamkeit des Kindes von seinen eigenen gekränkten Gefühlen auf das lenken, was sein Verhalten bei dem anderen angerichtet hat, geben wir ihm ein wichtiges Werkzeug an die Hand. Mit der Zeit lernen unsere Kinder so, sich auch ohne unser Beisein “richtig” zu verhalten und nicht nur ihr eigenes Wohl, sondern auch das Wohl ihrer Mitmenschen in ihrem Verhalten zu berücksichtigen.

Familienalltag ohne Strafen? Das sind unsere Praxis-Tipps

Wenn du dich jetzt fragst, wie du Positive Disziplin im Alltag konkret umsetzen kannst, haben wir hier ein paar Praxis-Tipps für dich:

Freundliche, kurze Erinnerungen statt Befehle
Statt “Räum’ den Teddy auf!” versuch’ es mit einem ruhigen, freundlichen: “Aufräumen”.

Positive Aufmerksamkeit und Ermutigung
Erkenne es an, wenn dein Kind sich toll verhalten hat und zeige ihm, dass du sein vorbildliches Verhalten wertschätzt.

Keine Auszeiten
Hat dein Kind sich falsch verhalten, setze dich zu deinem Kind und spreche mit ihm. Wenn andere Kinder involviert sind: Seht euch vielleicht gemeinsam ein Buch an, bis das Kind zu einer Entschuldigung bereit ist, anstelle das Kind in einen anderen Raum zu schicken.
Lies dazu auch unseren Artikel: Time-Out — sinnvolle Erziehungsmethode oder grausame Strafe?

Eigene Emotionen kontrollieren
Bist du verärgert oder wütend, kann es schnell passieren, dass du dich in der Tonart vergreifst oder anders handelst, als du das mit klarem Kopf tun würdest. Kinder beobachten uns aber auch in solchen Momenten. Besinnen wir uns auf unsere Vorbildfunktion!

Fazit: Darum ist Positive Disziplin gut fürs Familienleben!

Machen wir uns folgendes bewusst: Unsere Kinder verhalten sich nicht mit Absicht schlecht”. Unsere Aufgabe ist es, nach den Gründen für das Benehmen unseres Nachwuchses zu suchen. Dann sind wir schon mitten im Prinzip der Positiven Disziplin. Im nächsten Schritt können wir versuchen, unserem Kind einen Ausweg aus der Situation vorzuschlagen, anstatt zu schimpfen oder laut zu werden. Indem wir das Kind vordergründig “wählen” lassen, was es als Nächstes tun möchte, um seinen Fehler wiedergutzumachen, vermeiden wir Machtkämpfe und lassen das Kind gleichzeitig Verantwortung für sein Verhalten spüren.

Langfristig trainieren wir auf diese Weise nicht nur empathisches Verhalten, Verantwortung und Gemeinschaftsgefühl bei unserem Kind (und uns selbst!), sondern unsere Kinder verstehen auch, dass falsches Benehmen nicht das Ende der Welt ist. Aus Fehlern sollte man lernen — lasst uns das wirklich wörtlich nehmen und Fehler als Chance nutzen unseren Kindern einen “Werkzeugkasten fürs Leben” aus Selbstkontrolle, Selbstständigkeit und Verantwortung mitzugeben!