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Strafe muss sein? Warum Strafen in der Erziehung wenig taugen

Autorin - Melanie Schüer

Kinder testen ihre Grenzen und provozieren dabei nicht nur Streit mit den Geschwistern, sondern strapazieren auch die Nerven der Erwachsenen. Uns Eltern wird oft eingeredet, ohne Strafen sei Erziehung nicht möglich. Hausarrest, Stiller Stuhl, Verbote - Arten, Kinder zu bestrafen gibt es viele. Doch erzielen Strafen überhaupt den gewünschten Effekt?

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Lesezeit: Etwa 7 Minuten
Strafen in der Erziehung: Kind sitzt schmollend auf dem Boden

Mit Strafen erreicht man das Gegenteil

 

Studien belegen: Strafen bewirken in der Regel nicht, dass ein Kind wirklich einsieht, dass sein Verhalten falsch war. Im Gegenteil lenken sie eher von einer echten Einsicht ab. Denn in der Regel führen Strafen dazu, dass das Kind sich ungerecht behandelt fühlt und wütend oder traurig wird. Es beschäftigt sich vor allem damit, was die Strafe für es selbst bedeutet – aber nicht mit dem, was es eigentlich aus der Strafe lernen soll. Somit lernt es auch nicht, sich in andere hineinzuversetzen, die es möglicherweise verletzt oder beleidigt hat. Strafen schaden somit eher der moralischen Entwicklung von Kindern.

Forschungen haben ergeben, dass Strafen auf lange Sicht das Verhalten, für das sie verhängt werden, nicht verhindern (vgl. Sears et al. 1957). Außerdem bewirken Strafen, dass Kinder, deren Eltern viel strafen, sich zwar vielleicht zuhause scheinbar „besser benehmen“, dafür aber außerhalb des eigenen Zuhauses besonders viele Regeln brechen (vgl. Toner 1986, S. 27-37).

Nachteile von Strafen

Der amerikanische Erziehungsexperte Alfie Kohn nennt in seinem Buch "Liebe und Eigenständigkeit" weitere Nachteile von Strafen, z.B.:

  • Bestraft zu werden löst in Kindern das Gefühl aus, gedemütigt zu werden. Das führt zu Bitterkeit, Wut und dem Wunsch, sich zu rächen – an den Eltern oder an anderen Kindern. 
  • Je älter Kinder werden, desto weniger Kontrolle haben Eltern über sie. Sie können sich Strafen dann immer mehr entziehen, sodass Strafen ihre Macht verlieren. Wenn der Einfluss der Eltern bisher auf Strafen basiert hat, entsteht dann ein großes Problem.
  • Strafen vermitteln die Lektion: Es ist okay, anderen Leid zuzufügen, um sich durchzusetzen. Das ist die Botschaft, die Kinder lernen, wenn sie oft bestraft werden. Denn Eltern sind die wichtigsten Vorbilder für ihre Kinder.

Langzeitfolgen von körperlichen und psychischen Bestrafungen

Eltern sollten niemals körperliche Strafen wie Ohrfeigen, Schläge, Klapse, etc. einsetzen sollten. Körperliche Gewalt an Kindern ist nicht nur gesetzlich verboten, sondern die Forschung lässt keine Zweifel daran, dass Kinder, die körperliche Gewalt von ihren Eltern erfahren, selbst aggressiv werden und psychische Probleme entwickeln (vgl. Gershoff 2002, S. 539-79).
Was weniger offensichtlich ist: neben körperlicher Gewalt führen auch nicht-körperliche Strafen wie Auszeiten, Drohungen oder Verbote zu seelischen Störungen bei Kindern. Sie werden dadurch misstrauisch gegenüber ihrer Umwelt und können nicht zu selbstbewussten Menschen heranwachsen, die sich und anderen Menschen vertrauen. Der Zusammenhang zwischen Suchtgefährdung und gestörtem Selbstwertgefühl bei Kindern ist vielfach nachgewiesen worden.

Den emotionalen Zugang finden und genau hinschauen

Aber geht es denn wirklich ganz ohne Strafen? Und wie bringen wir Kindern stattdessen bei, sich rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst zu verhalten? Wenn wir Kindern etwas beibringen wollen, müssen wir sie zunächst emotional erreichen. Das ist aber nur möglich, wenn wir Eltern wissen, wie es unserem Kind gerade geht. Wenn ein Kind gerade traurig, wütend oder enttäuscht ist, ist es wenig aufnahmefähig für Belehrungen, Kritik oder Bitten, etwas zu verändern. Dann ist erst einmal eine Umarmung, Händchen halten oder beruhigendes Zusprechen angebracht. Vielleicht musst du auch selbst einmal Luft holen, bevor du explodierst oder dir die Hand ausrutscht.

Um Ungerechtigkeiten oder Unverständnis zu vermeiden, solltest du auf alle Fälle zuerst die Beweggründe für das Verhalten deines Kindes herausfinden. Wenn du stattdessen impulsiv eine Strafe verhängst, wird dein Kind sich vermutlich nicht öffnen und erklären, weshalb es so gehandelt hat. Ein Beispiel: Im letzten Sommer fuhren wir mit unseren Kindern an den Strand. Während wir das Auto ausluden, wartete unser sechsjähriger Sohn mit unserer zweijährigen Tochter neben uns auf dem Parkplatz. Sie liefen ein paar Schritte – und auf einmal sahen wir unsere Tochter mitten in einem Graben, ihre Kleidung nass und voller Matsch! Anscheinend hatte unser Sohn sie in den Graben gesetzt. Wir wurden richtig wütend, denn das bedeutete, dass nun einer zurück zur Ferienwohnung fahren und saubere Kleidung für die Kleine holen musste!

Wir schimpften sehr laut und böse mit unserem Sohn. Als er endlich wieder zu Wort kam, konnte er uns erklären, dass seine Schwester auf dem Campingplatz hinter dem Graben einen Hund entdeckt hatte und er sie über den Graben tragen wollte, damit sie den Hund streicheln konnte. Als wir das hörten, tat es uns sehr leid, dass wir so heftig mit ihm geschimpft hatten.

Ich-Botschaften und klare Regeln sind wichtig

Wenn dein Kind (und du) sich ein wenig entspannt hat, kannst du deine Botschaft vermitteln – möglichst mit vielen Ich-Aussagen, die erklären, warum du selbst etwas problematisch findest und eine Veränderung wünscht, z.B.: „Ich brauche abends einfach ein wenig Ruhe, um mich zu entspannten. Das kann ich aber nicht, wenn du so laut Musik hörst.“

Auch der authentische Ausdruck von Wut kann dazu gehören – möglichst aber ohne Schreien, z.B.: „Mann, das macht mich jetzt einfach richtig sauer! Ich finde das echt bescheuert, ich habe dich doch schon so oft darum gebeten!“ Wichtig ist, dem Kind nicht nur die eigene Meinung deutlich zu machen, sondern sich auch auf die Sichtweise des Kindes einzulassen: „Ich wünsche mir, dass wir abends alle zusammen essen, um Zeit miteinander zu verbringen. Das klappt aber nicht, wenn du fast jeden Tag zu spät kommst. Wie siehst du das?“ Besonders mit älteren Kindern solltest du auf klaren Verabredungen bestehen.

Gegenseitiger Respekt statt Strafen

Es kann Situationen geben, in denen natürliche Konsequenzen unausweichlich sind. Wenn ein Kind sich immer wieder weigert, die Hausaufgaben zu machen, müssen Eltern loslassen und dem Kind erlauben, seine eigenen Erfahrungen zu machen. Und wenn Kleinkinder extrem oft trotzen und überhaupt nicht mehr ansprechbar sind, können Sätze wie „Wenn du dich jetzt nicht anziehen lässt, können wir heute nicht mehr mit den Puppen spielen!“ nötig sein, um das ältere Geschwisterkind rechtzeitig abzuholen. Das sollten aber eher begrenzte Ausnahmen sein.

Wichtig ist, unseren Einfluss als Eltern nicht auf Machtmittel wie Strafen, sondern auf gegenseitigen Respekt zu bauen. Wenn ein Kind von Eltern erzogen wird, die es respektieren, selbst Fehler eingestehen und mit dem Kind gemeinsam nach Lösungen und manchmal auch nach Kompromissen suchen, statt sich von oben herab mit Strafen durchzusetzen – dann sind Strafen meistens gar nicht nötig. Dann bewirken ehrliche und klare Worte viel mehr als eine Strafe – weil einem Kind, das sich von seinen Eltern respektiert fühlt, die Meinung seiner Eltern wichtig ist (auch wenn es sich das nicht immer anmerken lässt …). Auch erzwungene Entschuldigungen sind oft wenig sinnvoll. Empfehlenswert ist es dagegen, das Kind ruhig und freundlich anzuleiten, Schaden (wenn möglich) wieder gut zu machen – z.B., den dreckigen Boden (ggf. mit Hilfe) wieder sauber zu machen.

Geduld und Liebe helfen

Wenn du also das nächste Mal den gut gemeinten Tipp „Strafe muss sein!“ hörst, dann schau' dein Kind an und mache dir bewusst: Dein Kind ist nicht gegen dich. Dein Kind macht nicht immer wieder die gleichen Fehler, um dich zu ärgern. Es macht sie deshalb, weil es ein Kind ist: Ein Wesen, das stark von seinen Gefühlen und seiner Neugier gesteuert wird. Ein zauberhaftes, aber etwas unkontrolliertes Wesen, das seine Emotionen noch nicht unter Kontrolle hat und vor lauter Forscherdrang Regeln immer wieder vergisst. Ein liebevoller, aber moralisch noch „unfertiger“ kleiner Mensch, dessen Gehirn es oft noch nicht schafft, sich in andere hineinzuversetzen. Deine Aufgabe ist es nicht, es zu bestrafen – sondern ihm mit Geduld und Liebe beizubringen, wie es besser geht. 

Ein Tipp zum Schluss

Wenn du merkst, dass du deinen Kindern gegenüber häufiger ungeduldig und genervt reagierst, kann das daran liegen, dass du selbst eine Auszeit oder mehr Unterstützung brauchst. Sprich mit deinem Partner/deiner Partnerin darüber oder mit einer guten Freundin/Freund. Versuche, deine Situation zu verbessern, damit deine Kinder nicht unter deinem Stress leiden müssen. Es ist normal, wenn Eltern an ihre Grenzen kommen – und es ist eine große Stärke, sich das einzugestehen und um Hilfe zu bitten. Auch darin können wir ein Vorbild für unsere Kinder sein.

Quellen

 

  • Sears, R. et al., 1957, Patterns of Child Rearing. Evanston, IL: Row, Peterson.
  • Toner, I.J., 1986, Punitive and Non-Punitive Discipline and SubsequentRule-Following in Young Children. In: Child Care Quarterly 15, S. 27-37.
  • Gershoff, E.T., 2002, Corporal Punishment by Parents and Associated Child Behaviors: A Meta-Analysis and Theoretical Review, In: Psychological Bulletin 128, S. 539-79.