Wir Menschen haben eine Vielzahl von Bedürfnissen unterschiedlichster Art. Der Psychotherapeut Klaus Grawe hat vier wesentliche, menschliche Grundbedürfnisse herausgearbeitet, die auch die wichtigsten Bedürfnisse von Kindern begründen. In diesem Artikel beschreiben wir verständlich und konkret – bezogen auf die kindliche Erlebenswelt – um welche vier Grundbedürfnisse es sich handelt. Für ein Kind ist es gesünder mit ausreichend guten Eltern aufzuwachsen anstatt mit Eltern, die immer alles „richtig machen“. Beim ausreichend guten Elternsein geht darum, die wichtigsten kindlichen Bedürfnisse zu erfüllen – aber nicht jeden kindlichen Wunsch.
ERSTES GRUNDBEDÜRFNIS
Kinder brauchen Verbundenheit mit anderen Menschen und stabile, liebevolle Beziehungen. Sie brauchen die Sicherheit, dass es Menschen gibt, die zuverlässig für sie sorgen, die sie wertschätzen und gerne Zeit mit ihnen verbringen. Sie brauchen die Botschaft, dass sie für einige ausgewählte Menschen besonders und wertvoll sind, dass sie dazu gehören und ernst genommen werden. Mütter und Väter sind in der Regel die wichtigsten Bezugspersonen – von Eltern lernen Kinder, wie man Beziehungen lebt. Sie lernen, wie man Zuneigung zeigt, Frust ausdrückt, Grenzen zeigt, „Nein“ sagt, Wünsche äußert, Konflikte klärt und sich verträgt.
Dazu braucht es Eltern, die sich regelmäßig Zeit nehmen, in der sie ganz für ihr Kind da sind und nichts nebenher machen. Die die Meinung des Kindes respektieren und es aushalten, wenn diese eine andere ist als die eigene. Mütter und Väter, die ihr Kind in den Arm nehmen und ihm ihre Liebe deutlich machen, aber auch gut für sich selbst sorgen. Eltern, die auch mal „Nein“ sagen, Konflikte zulassen, aber dennoch immer wieder auf das Kind zugehen und zeigen: Auch wenn du mich mal wütend machst, habe ich dich immer lieb! Das schaffen wir Eltern nicht immer – es gehört zum Leben dazu, dass wir als Eltern mal nicht gut zuhören, ungeduldig reagieren oder mit unserem Kind zu Unrecht schimpfen. Wenn wir damit gut umgehen, indem wir uns entschuldigen und mit dem Kind darüber sprechen und ihm Liebe und Geborgenheit geben, dann schadet das dem Kind nicht. Vielmehr lernt das Kind dadurch, mit Frust umzugehen und auch, wie man Fehler reflektiert und sich entschuldigt.
ZWEITES GRUNDBEDÜRFNIS
Kinder lieben Rituale und Gewohnheiten. Das hängt auch mit dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung zusammen. Menschen, besonders Kinder, suchen Sicherheit. Es muss nicht immer alles gleich und wie geplant ablaufen, aber eine gewisse Berechenbarkeit ist wichtig. Dazu gehört, dass ein Kind weiß, was in seinem Leben gerade relevant ist. Es weiß, was demnächst ansteht, was sich möglicherweise ändert, was heute noch passiert.
Dein Kind weiß, wer seine Ansprechpartner sind und, an wen es sich wann wenden kann. Es hat einen ungefähren, zuverlässigen Tagesablauf. Als Mutter und Vater ist es wichtig, für ein ausreichendes Maß an Struktur und Zuverlässigkeit zu sorgen, was auch genügend Schlaf und klare Begrenzungen für Medienkonsum bedeutet. Euer Kind kann sich auf die Zusagen seiner Eltern verlassen. Und es hat zugleich das Gefühl, einen gewissen Einfluss auf sein Leben zu haben: Es erfährt, dass seine Eltern ihm zuhören und seine kindlichen Wünsche ernst nehmen. Das Kind darf nicht alles bestimmen, aber wenn es z.B. gern mal wieder schwimmen gehen möchte, hören seine Eltern das und suchen nach Möglichkeiten oder Kompromissen.
DRITTES GRUNDBEDÜRFNIS
Menschen suchen Bestätigung und das Gefühl, wichtig und wertvoll zu sein. Das bedeutet nicht, dass man Kinder pausenlos loben sollte. Viel wichtiger ist es, dass ihr als Mutter und Vater Interesse an eurem Kind zeigt, sich mit ihm freuen könnt, wenn es etwas geschafft hat und auch kleine Anstrengungen und Fortschritte anerkennen. Eltern sollten nicht alles durchgehen lassen und deutlich machen, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Sie sollten aber auch immer wieder bewusst darauf achten, was das Kind gut gemacht hat und auch vermeintliche Kleinigkeiten wertschätzen, z.B.: „Danke für deine Mithilfe beim Backen!“ oder „Schön, dass du dich um deine kleine Schwester kümmerst!“ oder „Du springst ja schon richtig hoch!“
Der Paartherapeut John Gottman fand heraus, dass bei glücklichen Paaren das Verhältnis zwischen positiven Interaktionen und Kritik 5:1 beträgt. Das heißt: Auf eine Kritik kommen fünf nette Worte, Komplimente, aufmerksame Fragen, zärtliche Berührungen wie eine Umarmung oder ein freundliches Lächeln. Das ist nicht immer machbar und es ist okay, dass es solche „miesen Tage“ gibt, aber diese Regel bietet eine gute Orientierung. Ermutigende Eltern achten darauf, gerade, wenn sie viel kritisieren (müssen), auch viel positive Beachtung zu geben. Ermutigt euer Kind, sich auszuprobieren und bei Misserfolgen nicht gleich aufzugeben. Ihr könnt eurem Kind vermitteln, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat und ihm helfen, seine Stärken zu entdecken und zu kultivieren.
Für einen gesunden Selbstwert ist es außerdem wichtig, dass ihr als Eltern eurem Kind aufmerksam zuhört und seine Ansichten und Wünsche, Sorgen und Fragen ernst nehmt. Auch wenn ihr das nicht immer schafft – was völlig okay ist – ist es wichtig respektvoll zu sein und mit Interesse Anteil am Leben eures Kindes zu nehmen. Durch freundliche Worte, Berührungen und das gemeinsame Zeit verbringen, vermittelt ihr eurem Kind, wie wichtig es für euch ist. Dies stärkt auf Dauer den Selbstwert eures Kindes.
VIERTES GRUNDBEDÜRFNIS
Das mag zunächst profan klingen, doch jeder Mensch hat das Bedürfnis, glücklich zu sein. Die amerikanische Verfassung erkennt das Streben nach Glück als Menschenrecht an. Obwohl Frust und Probleme unweigerlich zum Leben dazu gehören, brauchen Kinder wie auch Erwachsene immer wieder positive Erfahrungen, in denen sie Freude, Leichtigkeit und Zufriedenheit erleben. Kinder sind anpassungsfähig und wollen lernen und auch nützlich sein, doch sie brauchen auch genügend Entfaltungsraum für Fantasie und Spaß. Deshalb ist es empfehlenswert als Eltern darauf zu achten, nicht nur Leistung zu fördern und zu fordern, sondern auch genügend Zeiten zu ermöglichen, in denen ihre Kinder einfach Spaß haben können. Zeiten, in denen sie sich ausprobieren, ihren Interessen nachgehen, spielen, mit ihren Eltern und mit anderen Menschen das Leben unbefangen genießen können.
Ein bis zwei feste Nachmittagstermine pro Woche (Sport / Musik-Instrument / Pfadfinder o.ä.) sind in der Regel ausreichend, mehr als drei sollten es dauerhaft eher nicht sein. Euer Kind sollte Freiraum haben, in dem es sich verabreden, aber auch mal für sich selbst spielen kann. Eltern dürfen und sollten auch mal Langeweile zulassen, denn so lernen Kinder, sich selbst zu beschäftigen und eigene Ideen zu entwickeln. Ebenso wichtig ist es aber auch, dass Kinder regelmäßig Freude mit ihren Eltern erleben. Das geht nicht jeden Tag in großem Umfang, aber bei kleineren Kindern sollten Eltern sich täglich zumindest eine halbe bis eine Stunde nehmen, in der sie ungestört mit ihrem Kind spielen, toben, malen, vorlesen o.ä. tun. Und auch im Schulalter ist es wichtig, dass Eltern zumindest ein- bis zwei Mal pro Woche Zeit einplanen, in der sie mit dem Kind ohne Zeitdruck „Spiel und Spaß“ genießen – neben kurzen täglichen Einheiten der Zuwendung, z.B. vor dem Einschlafen.
Vielleicht denkst du jetzt: Oh, das ist ja ganz schön anspruchsvoll. Stimmt: ein Kind zu erziehen ist der anspruchsvollste Job der Welt. Aber denke auch daran, dass du nicht perfekt sein musst, sondern dass manchmal „gut“ auch gut genug ist. Achte darauf, dass du diese vier Grundbedürfnisse nicht nur bei deinem Kind, sondern auch bei dir selbst berücksichtigst und ausbalancierst, denn wie heißt es so schön: Kindern geht es nur gut, wenn es auch den Eltern gut geht!