Emils (9 Jahre) Mutter berichtet: „In der ersten Klasse, als Emils Freunde bereits mit Begeisterung, Einkaufszettel nachkritzeln oder erste Leseversuche anhand der Überschrift in der Zeitung starten, lehnte Emil alles, was mit Schriftsprache zu tun hat ab. Die Lese- und Schreibhausaufgaben machte er nur widerwillig und es bereitete ihm Mühe, Buchstaben zu erlesen. Am Ende des zweiten Schuljahrs wurde ich stutzig, weil er in Diktaten unglaublich viele Fehler machte und seine Schrift zunehmend unleserlich wurde. Wir übten mehr. Seine Leistungen in der Schule nahmen aber trotzdem ab, auch in Mathematik, was er eigentlich immer gern mochte. Er klagte auch vermehrt über Bauchschmerzen, wenn er in die Schule sollte. Ich vermute da steckt mehr dahinter, aber mein Mann sagt: „Das kann nicht sein! Bei uns in der Familie ist keiner dumm. Er muss einfach mehr üben.“
Eine Legasthenie ist eine Lernstörung, die das Lesen und Schreiben betrifft. Neben dem Begriff „Legasthenie“ wird häufig auch der Begriff „Lese- und Rechtschreibstörung“ (LRS) verwendet. Es wird angenommen, dass die Sinneswahrnehmungen bei legasthenen Menschen neurologisch anders verarbeitet werden. Dadurch verarbeiten sie auch erhaltene Informationen anders, wodurch ihre Lernfähigkeit beeinflusst wird.
Schätzungsweise sind 15% der Weltbevölkerung von Legasthenie betroffen. Bei etwa 4% bis 7% aller Schulkinder wird eine LRS diagnostiziert (Küspert et al. 2007). In einer Klasse mit 20 Schülern sind also ca. 1-3 Kinder betroffen. Jungen sind zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Mädchen.
Für viele Eltern kommt der Verdacht, dass ihr Kind eine Lese-Rechtschreibstörung haben könnte, unerwartet. Sie können sich diese Teilleistungsschwäche nicht erklären, denn ihr Kind ist ja ansonsten begabt. Aber genau das ist gemeint, wenn man von Legasthenie spricht; es handelt sich – wie bei Emil – um ein normalintelligentes Kind mit einer spezifischen Schwäche im Lesen und Schreiben. Diese, auch das erfahren wir aus den Ausführungen von Emils Mutter, kann jedoch das Erscheinungsbild allgemeinen Schulversagens annehmen und das emotionale Wohlbefinden des Kindes beeinflussen. Lies auch hier wie du Symptome einer Legasthenie erkennen kannst.
Eltern machen sich häufig Vorwürfe und suchen die Schuld bei sich. Aber Umwelteinflüsse wie, z.B. ein Mangel an Zeit, Schulwechsel, schulische Methoden, mangelndes Üben, verstärkter Medienkonsum etc. machen noch lange keine Legasthenie!
Die Legasthenie ist eine umschriebene Entwicklungsstörung. Das heißt, sie hat biologische Ursachen, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Man geht von einer Erblichkeit von 50% bei Lesestörungen und 60% bei Rechtschreibstörungen aus (Schulte-Körne 2007). Wissenschaftler konnten auch Chromosomen ausmachen, die an der Entstehung der Legasthenie beteiligt sein sollen.
Entwicklungsstörungen des Lesens gehen oft Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Viele Kinder zeigen bereits im Kindergartenalter Schwierigkeiten in der Phonologischen Bewusstheit (PhB), also dem Umgang mit Wörtern, Silben und Lauten. Die PhB erlaubt es uns, die Lautstruktur eines Wortes zu erfassen und zu verändern. Ist die Fähigkeit zur rhythmischen Gliederung in Sprechsilben erschwert, kann dies zu Schwierigkeiten beim Erlernen der Schriftsprache führen.
Eine Legasthenie kann zu einem generellen Schulversagen führen. Schulisches Wissen wird fächerübergreifend in Textform vermittelt und auch Tests werden als Textaufgaben gestellt und müssen in ganzen Sätzen beantwortet werden. Somit beeinflussen Schwierigkeiten im Leseverständnis und Schreiben auch die Leistungen in anderen Fächern.
Schnell begreifen betroffene Kinder, dass sich Fleiß nicht in guten Benotungen niederschlägt und auch, dass die Eltern enttäuscht sind. Sie erleben sich als dumm und unbegabt: „Ich kann das nicht!“ Darunter leidet das Selbstwertgefühl. Die Motivation zu lernen nimmt ab, die Angst zu Versagen nimmt zu. Dies kann wiederum zu Vermeidungsstrategien und in weiterer Folge zu psychosomatischen Beschwerden (Bauchweh, Kopfweh etc.) bis hin zu Verhaltensauffälligkeiten (Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität etc.) führen.