Format: Artikel – Schreibfeder auf dem Tisch
Artikel

Erziehungsstile – Pädagogische Ansätze für den Eltern-Alltag

Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Erziehungsstile. Ihr als Mutter oder Vater – gemeinsam als Eltern – entscheidet, mit welchen pädagogischen Ansätzen ihr einverstanden seid, welche Werte ihr vermitteln möchtet. Sich für die eine Richtung zu entscheiden ist oft nicht leicht. Meist hängt dies wesentlich von den eigenen Erfahrungen, Herkunft und auch kulturellem Hintergrund ab. Viele Eltern verknüpfen die unterschiedlichen Ansätze und finden dennoch eine Linie, die für sie als Familie passt. Ein liebevolles und zugewandtes Miteinander bringt Freude in den Familien-Alltag.

Lesezeit: Etwa 17 Minuten
Kleines Mädchen und Mutter schauen sich an und haben Spaß.

Montessoripädagogik

Die italienische Reformpädagogin und Ärztin Maria Montessori entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts umfassende pädagogische Ansätze, welche die Bedeutung von Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern betont. Dabei war es ihr wichtig, dass Erziehung Kinder dabei unterstützt, sich zu mündigen, eigenverantwortlichen Menschen zu entwickeln. Die Montessoripädagogik beruht auf der Annahme, dass jeder Mensch über einen individuellen inneren „Bauplan“, also Veranlagungen und Potenziale, verfügt und diesem folgen wird, wenn die Lebensbedingungen dies zulassen.

Maria Montessori beschrieb konkrete Phasen, in welchen Menschen für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten besonders offen und empfänglich sind, z.B.:

  • 0 – 3 Jahre: Sensibilität für Ordnung, Bewegung und Sprache.
  • 3 – 6 Jahre: Sensibilität für Bewusstseinsentwicklung, soziales Zusammenleben, eigene Leistungen.
  • 6 – 12 Jahre: Sensibilität für neue soziale Beziehungen, für die Entwicklung eines moralischen Bewusstseins, wissenschaftliche Erkenntnisse und Abstraktionen.

Wann genau ein Kind für die jeweiligen Lerninhalte offen ist, wann sich also sein „Lernfenster“ öffnet, unterscheidet sich von Kind zu Kind und kann nicht vorhergesagt werden. Deshalb empfiehlt die Montessoripädagogik, dass Kinder in ihrem eigenen Tempo und ihren eigenen Interessen entsprechend mit möglichst vielen Sinnen lernen sollten. Erwachsene sollten durch eine vorbereitet Umgebung Anreize schaffen, Neues zu entdecken, sollten aber nichts vorgeben, sondern das Kind im eigenständigen Erforschen unterstützen. Daher lautet ein bekanntes Credo der Montessoripädagogik „Hilf mir, es selbst zu tun!“

Montessori – Bedeutung für den Eltern-Alltag

Hilf mir, es selbst zu tun!“ ist ein wichtiges Prinzip, das auch im Familienalltag sehr hilfreich ist. Gerade in stressigen Zeiten neigen wir Eltern dazu, vieles zu übernehmen und zu machen, weil es dann schneller geht. Besser ist es jedoch für die Entwicklung des Kindes, wenn man dem Kind immer wieder (altersgerecht) ermöglicht, Aufgaben selbst auszuprobieren und es ermutigt, dran zu bleiben, bis es sie immer besser beherrscht – z.B beim Anziehen, Waschen, Kochen, usw., aber auch in sozialen Situationen. So kann man schon Kindergartenkinder ermutigen, im Geschäft oder bei den Nachbarn selbst etwas zu fragen, anstatt die Frage als Erwachsener zu übernehmen. Wenn das Kind es dann geschafft hat, freut man sich mit ihm – und stärkt damit sein Selbstvertrauen enorm.

Auch beim Thema „Spielen“ bietet die Montessoripädagogik wertvolle Anregungen. Es gibt eine große Auswahl von Montessori-Spielzeug und Lernmaterial, oft aus Holz oder anderen Naturstoffen, welches die Fantasie und den Eigensinn der Kinder beim Spielen fördert. Aber auch ohne konkrete Montessori-Materialien kann man sich von diesem Ansatz inspirieren lassen. So führt ein übervolles Kinderzimmer oft dazu, dass Kinder gar nicht mehr recht wissen, womit sie spielen sollen. Da ist es sinnvoll, immer mal wieder auszusortieren und nur eine kleine Auswahl von Spielzeugen bereitzustellen, an denen das Kind gerade besonderes Interesse zeigt – im Sinne einer „vorbereiteten Umgebung“.

Auch Natur- und Alltagsmaterialien wie Steine, Eicheln, Blätter, Schüsseln, Knöpfe usw. können wunderbare Spielmöglichkeiten sein, die das Kind zum Entdecken und Ausprobieren anregen. Dabei sollten Eltern durchaus gern mal „mitmachen“, aber sich eher als Begleiter sehen, die die Welt mit ihrem Kind gemeinsam entdecken und es ermutigen, mit Dingen zu experimentieren und Neues herauszufinden, anstatt alles direkt zu erklären und fertige Antworten zu liefern.

Pädagogik nach Jesper Juul

Seit den 1970er Jahren entwickelte der dänische Familientherapeut Jesper Juul seinen pädagogischen Ansatz der „gleichwürdigen“ Erziehung. Diese pädagogische Haltung distanziert sich sowohl von autoritärer Pädagogik, in der die Eltern über dem Kind stehen als auch von antiautoritärer bzw. Laissez-faire-Erziehung, bei welcher das Kinder tun und lassen kann, was es will.

Jesper Juuls Pädagogik sieht Kinder als ebenso wertvolle Menschen wie Erwachsene und möchte erreichen, dass Kinder und Erwachsene sich gegenseitig respektvoll behandeln. Die Wünsche, Bedürfnisse und Ansichten beider (Kinder und Erwachsener) sollen gleichermaßen berücksichtigt und ernst genommen werden. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder genau die gleichen Freiheiten und Pflichten haben wie Erwachsene. Was Kinder dürfen und müssen, soll sich durchaus an ihrer Entwicklung orientieren.

Das bedeutet: Wenn Kinder noch klein sind, übernehmen die Eltern in vielen Bereichen die Führung, einfach, weil das Kind noch mehr Unterstützung braucht, um seine Kompetenzen zu entfalten. Die Eltern nehmen dabei aber Rücksicht auf die Bedürfnisse und Ansichten des Kindes und nehmen seine Fragen und Einwände ernst. Sie respektieren die Würde es Kindes, indem sie auf Zwang, Gewalt, Drohungen und Unterdrückung verzichten. Je älter das Kind wird, desto mehr Eigenverantwortung wird ihm übergeben.

Jesper Juul – Bedeutung für den Eltern-Alltag

Kinder sind, so Jesper Juul, von Anfang an soziale Wesen, die mit ihren Mitmenschen kooperieren, also grundsätzlich gut auskommen und sich mit ihnen verstehen wollen. Um das auf eine sozial angemessene Weise zu tun, brauchen sie erwachsene Vorbilder, die sie nicht in erster Linie belehren, sondern im praktischen Alltag soziale Werte und soziales Handeln vorleben.

Wenn Kinder sich „daneben“ benehmen, so liegt das laut Juul meist daran, dass sie auf etwas reagieren, dass in der Familie selbst, zwischen den Erwachsenen oder bei einem einzelnen Elternteil nicht richtig läuft. Das kann beispielsweise eine angespannte Beziehung zwischen den Eltern sein, ein belastender innerer Konflikt des Vaters oder der Mutter oder auch ein Umgang mit dem Kind, der dessen Würde verletzt (z.B. häufiges Anschreien, Drohungen, Übergehen von Fragen o.ä.).

Kinder lernen, indem sie ihre Eltern nachahmen – meistens, ohne, dass ihnen das bewusst ist und nicht immer direkt, sondern manchmal auch, indem sie das Gegenteil tun oder etwas, mit dem sie ihre Eltern von etwas ablenken oder abhalten können (wie gesagt, in der Regel unbewusst). So kann es sein, dass ein Kind, dessen Eltern vieles verschweigen, spürt, wie problematisch das ist und intuitiv anfängt, extrem viel zu reden. Oder, dass ein Kind, dessen Mutter Probleme damit hat, ihr Kind älter und selbstständiger werden zu lassen, wieder einnässt und sich dadurch unbewusst wieder zurückentwickelt zum kleinen Kind. Kinder, deren Eltern oft schreien, drücken diese Aggression oft aus, indem sie handgreiflich werden. Sie spüren die Gewalt, die in der Luft liegt und weil Kinder sich selbst schlechter kontrollieren können, leben sie sie direkter aus als die Erwachsenen.

Nicht immer ist der Zusammenhang leicht zu erkennen, aber Juul geht davon aus, dass Problemverhalten von Kindern immer auf bestimmte Fehlfunktionen im Familiensystem zurückgeht. Das müssen gar nicht immer gravierende Konflikte sein, sondern können auch kleine, ungünstige Gewohnheiten oder Verhaltensmuster sein, die es auch in den liebevollsten Familien gibt. Das bedeutet für den familiären Alltag: Eltern sollten nicht nur das Symptom sehen, sondern sich fragen, worauf das Kind damit reagieren könnte. Welche Punkte gibt es bei den Eltern, zwischen den Eltern oder zwischen Eltern und Kind, die mit Stress und Belastung verbunden sind? Oder, in denen sich die Eltern unsicher fühlen? Wo wird vielleicht das Kind in Entscheidungen zu wenig respektiert oder wo wird andersherum die Aufgabe der Eltern, ihrem Kind „Leitwölfe“ zu sein, die je nach Alter mehr oder weniger Führung vorgeben, vernachlässigt und dem Kind zu viel selbst überlassen?

Die Annahme, dass Kinder grundsätzlich kooperieren wollen, ist ebenfalls wichtig für den Eltern-Alltag. Denn wenn Kinder immer wieder das gleiche Fehlverhalten zeigen, dann kommt früher oder später der Gedanke auf: „Mein Kind macht das absichtlich! Es will mich provozieren, manipulieren, Grenzen austesten, mich fertig machen ...“ So eine Haltung führt zu Frust und Wut und im schlimmsten Fall dazu, dass man das Kind immer mehr ablehnt. Das wiederum verletzt das Kind in seiner Würde, wodurch das Fehlverhalten oft noch schlimmer wird. Daher ist es wichtig, sich bei Konflikten mit dem Kind immer wieder in Erinnerung zu rufen: „Mein Kind macht das nicht mit böser Absicht. Irgendwo läuft etwas schief und das führt dazu, dass mein Kind immer wieder in dieses Verhalten zurückfällt. Das hat mein Kind nicht in der Hand und das ist ihm auch nicht bewusst. Unser Ziel ist es, das gemeinsam herauszufinden.“ Da man als Elternteil ja selbst mitten im System ist, sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Um herauszufinden, welche Stellschräubchen gedreht werden müssen, damit das Fehlverhalten seine Funktion verliert, ist daher oft ein neutraler Blick nötig. Daher sollten wir uns als Eltern nicht scheuen, bei Schwierigkeiten professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, z.B. in Erziehungsberatungsstellen vor Ort (www.dajeb.de) oder in der Online-Beratung von ElternLeben.

Attachement Parenting

Attachement Parenting ist ein Erziehungsansatz, der sich stark an den kindlichen Bedürfnissen orientiert. Er betont die Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung und befürwortet daher Verhaltensweisen, welche eine enge, liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind fördern. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Kinder sich dann besonders positiv und gesund entwickeln, wenn sie viel Nähe erfahren und, wenn ihre natürlichen Bedürfnisse erfüllt werden.

1975 veröffentlichte die US-amerikanische Autorin Jean Liedloff in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ ihre Beobachtungen des familiären Zusammenlebens bei den Yequana-Indianern. Sie betonte, dass die Kinder in dieser Kultur sehr lange ständig nah am Körper getragen werden, nach Bedarf gestillt werden, bei ihren Eltern im Bett schlafen dürfen und, dass die Erwachsenen unmittelbar auf die Signale des Kindes reagieren – auf eine Weise, die auf Herabsetzung verzichtet, das Kind respektiert, es aber auch nicht zum ständigen Zentrum der Aufmerksamkeit macht. Dabei sollen Kinder so Teil der Gesellschaft sein, dass sie jederzeit alle Menschen in der direkten Umgebung ansprechen dürfen und nicht institutionell betreut werden, sondern am Alltag ihrer Eltern teilhaben, ohne aber permanent „beschäftigt“ zu werden. Sie sollen aber das Gefühl bekommen, willkommen und respektiert zu sein.

Ab 1982 entwickelten William und Martha Sears die eigentliche Methode des „Attachment Parenting“ auf Basis der Bindungstheorie und der Ideen von Jean Liedloff. Sie prägten den Begriff „Babyreading“, womit das feinfühlige Erkennen der kindlichen Signale und Bedürfnisse gemeint ist. Außerdem beschreiben sie sieben Aspekte, die für das Attachment Parenting besonders wichtig sind:

  • Körper- und Augenkontakt zwischen Mutter und Kind direkt nach der Geburt.
  • Stillen statt Flaschennahrung sowie Stillen nach Bedarf.
  • (möglichst häufiges) Tragen des Kindes am Körper.
  • Schlafen in Nähe des Kindes / Familienbett.
  • Rasches Reagieren auf das Schreiens des Kindes.
  • Verzicht auf Schlaftrainings, bei denen Babys und Kleinkinder z.B. nur in bestimmten Abständen getröstet werden.
  • Balance zwischen den Bedürfnissen von Kind und Eltern

Attachement Parenting – Bedeutung für den Eltern-Alltag

Wenn Eltern sich nur noch auf die vermeintlichen Bedürfnisse des Kindes konzentrieren und das, was sie selbst brauchen, dabei völlig vernachlässigen, führt das früher oder später zu Problemen. Auch in dem Ansatz von Sears ist ja die Balance der kindlichen und elterlichen Bedürfnisse enthalten, trotzdem besteht bei diesem Ansatz die Gefahr, dass Eltern sich übernehmen. Denn Kinder brauchen nicht nur viel Nähe und Zuwendung, sondern auch Eltern, die (in der Regel) ausgeglichen und entspannt sind. Kinder haben sehr feine Antennen und spüren es, wenn Eltern sich dauerhaft überfordern. Das stresst und verunsichert dann auch die Kinder. Deshalb sollten Eltern sich nicht dazu zwingen, jedes vermeintliche Bedürfnis des Kindes ohne Rücksicht auf Verluste erfüllen zu müssen.

Wenn sie z.B. im Familienbett einfach keinen Schlaf finden, dann muss eine andere Lösung her. Wenn das Baby im Tragetuch ständig schreit, dann darf es auch mal im Kinderwagen liegen. Und wenn das Bonding nach der Geburt nicht möglich war, bedeutet das nicht, dass nun „alles verloren“ ist. Es bedarf also einer gewissen Gelassenheit im Umgang mit diesem grundsätzlich sehr guten Ansatz. Seine Inhalte sollten nicht als feste Regeln, sondern eher als Orientierung verstanden werden, als Leitideen, die dann individuell an die jeweilige Familie angepasst werden müssen. Hinzu kommt, dass auch Kinder unterschiedlich sind – manche brauchen sehr viel Nähe, andere finden schon im ersten Lebensjahr im eigenen Bett besser zur Ruhe.

Rasch auf das Baby zu reagieren, ist besonders im ersten halben Jahr wichtig für die Entwicklung der Bindung und des Urvertrauens. Danach ist es aber durchaus förderlich und natürlich, wenn das Kind auch mal wenige Minuten warten muss, damit es schrittweise Geduld und Frustrationstoleranz entwickeln kann.
Viele haben bei diesem Ansatz Angst, das Kind „zu verwöhnen“. Verwöhnen bedeutet aber eigentlich, einem Kind Aufgaben abzunehmen, die es schon selbst erledigen könnte. Oder, das Kind zum absoluten Mittelpunkt zu machen und dabei sich selbst zu vernachlässigen. Natürliche Bedürfnisse zu erfüllen, hat mit Verwöhnen jedoch nichts zu tun.

Antiautoritäre Erziehung / Laissez-faire

Antiautoritäre Erziehung bzw. Laissez-faire-Erziehung ist ein Oberbegriff für Erziehungsansätze, die in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland entstanden ist. Diese Ansätze gehen davon aus, dass Kinder sich am besten entwickeln, wenn sie ihre individuelle Persönlichkeit möglichst frei entfalten können. Daher werden Freiheit, Kreativität und Rechte der Kinder betont und Einmischung und Lenkung durch Erwachsene werden weitgehend abgelehnt. Auch sexuelle Entwicklung sollte möglichst ohne Einflüsse Erwachsener ganz frei stattfinden (daher z.B. auch keine Interventionen bei „Doktorspielchen“ o.ä.), ebenso sollten Kinder selbst darüber bestimmen, wann sie beginnen, sauber zu werden und auf Windeln zu verzichten.

Kinder sollen auf diese Weise Eigenverantwortung lernen, ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln und lernen, sich selbst zu organisieren. Ein Beispiel für diese Erziehung sind die sogenannten Kinderläden, kleine Kita-Gruppen, die von Elternvereinen organisiert wurden, und in denen Kindern viel Selbstbestimmung zugestanden wurde. Auch die demokratischen Schulen sind ein Beispiel: Hier erhalten Schüler und Schülerinnen zwar Anregungen und Unterstützung, sie dürfen aber frei entscheiden, wann sie was lernen.

Laissez-faire – Bedeutung für den Eltern-Alltag

Viele Aspekte der antiautoritären Erziehung sind hilfreich, auch heutzutage. Es ist sinnvoll, den Alltag mit Kind so zu gestalten, dass man nicht unnötig oft „Nein“ sagen muss. Also z.B. bei Kleinkindern zerbrechliche Gegenstände außer Reichweite stellen, Süßigkeiten verstecken, usw. Und Eltern sollten tatsächlich Wert darauflegen, dass ihre Kinder viel Spielraum für die Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit erhalten. Also möglichst wenig Vorschriften im Sinne von „Aber so macht man das halt nicht!“, sondern stattdessen lieber erklären, warum man persönlich etwas für richtig hält und mit dem Kind überlegen, welches Verhalten welche Folgen hat. Ganz praktisch kann das z.B. bedeuten, dass ein Junge natürlich auch mal ein Kleid tragen darf oder ein pinkes T-Shirt, ohne, dass er dafür einen blöden Kommentar bekommt. Oder, dass Kinder zum Malen eher selten Ausmalbilder bekommen, sondern das freie Malen gefördert wird und zwar ohne Bewertungen wie „richtig/falsch“, „schön/nicht schön“, „ordentlich/unordentlich“.

Auch in Bezug auf die sexuelle Entwicklung ist eine gewisse Gelassenheit gut, denn es ist normal, dass Kinder ihren Körper spielerisch entdecken, auch miteinander. Allerdings gilt hier, wie auch in vielen anderen Bereichen: Ganz ohne Grenzen wird es schwierig. Hier waren auch die Ansätze der antiautoritären Erziehung unterschiedlich radikal. Der Begriff „laissez-faire“ (frei übersetzt: „Lasst sie einfach machen!“) ist ein besonders weit gefasstes Verständnis autoritärer Erziehung, der Kindern gar nichts mehr verbietet, was nicht zu empfehlen ist. Denn wenn Eltern überhaupt keine Richtung vorgeben und nie eingreifen, dann kann das gefährlich werden. Schließlich können Kinder bestimmte Risiken noch nicht einschätzen und Kleinkinder können sich auch noch nicht in die Rolle anderer hineinversetzen, sodass ihnen Rücksichtnahme noch kaum möglich ist.

Deshalb ist es wichtig, dass z.B. bei Doktorspielen darauf geachtet wird, dass diese nicht aus dem Ruder laufen, also, dass z.B. niemandem weh getan wird und niemand zu etwas überredet wird, das er nicht möchte. Auch ist es wichtig, dass Eltern ihre eigenen Grenzen authentisch deutlich machen, wenn sie z.B. von der Lautstärke der Kinder gestört werden oder nicht möchten, dass ihr Kleiderschrank ausgeräumt wird. Würde man radikal antiautoritär erziehen, also im laissez-faire-Stil, würde man auch hier nicht eingreifen, sondern die Kinder einfach alles tun lassen, wozu sie Lust haben. Das ist nicht zu empfehlen, weil sie dann nicht lernen, auf andere Rücksicht zu nehmen, sich an bestimmte Rahmenbedingungen anzupassen und auch kaum lernen, mit Frustration umzugehen.

Grenzen sind übrigens nicht gleichzusetzen mit Strafen. Der Verzicht auf Strafen hat nichts mit antiautoritärer Erziehung zu tun. Denn die Forschung zeigt: Strafen helfen auf Dauer in der Erziehung nicht. Sie bringen ein Kind höchstens dazu, das unerwünschte Verhalten kurzzeitig zu unterdrücken. Meist klappt das aber nicht auf Dauer, weil das Kind nicht wirklich einsieht, warum das Verhalten falsch ist. Strafen müssen dann immer härter werden, bis die Eltern irgendwann nichts mehr in der Hand haben bzw. die Kinder älter werden und sich den Strafen heimlich entziehen können. Außerdem schaden Strafen wie Hausarrest oder Verbote, die nichts mit dem eigentlichen Verhalten zu tun haben, häufig der Beziehung zwischen Eltern und Kind.

Besser ist es, zu überlegen, welche logischen oder natürlichen Konsequenzen passend sein könnten, z.B.: Wenn du nichts von dem Gesunden isst, kann es auch nichts Süßes geben, weil das Süße der Nachtisch ist. Oder: Wenn du deine Zähne nicht putzt, dann kannst du kein Bonbon essen, weil du sonst Karies bekommst. Am allerbesten ist es, wenn die Folgen sich automatisch ergeben: Wenn du dich weigerst, zu lernen, dann wirst du die Erfahrung machen, dass du keine gute Note bekommst. Das sollte man dann als Elternteil nicht schadenfroh oder wütend kommentieren, sondern eher mitfühlend und freundlich reagieren: „Eine Fünf, das tut mir leid! Da ärgerst du dich bestimmt, oder? Wenn du beim nächsten Mal mehr lernst, klappt es bestimmt besser!“

Autoritäre / „Schwarze“ Pädagogik

Dieser Ansatz war während des Dritten Reichs sehr verbreitet und Teile davon lassen sich oft auch noch im Denken der Nachkriegsgeneration und auch heutiger Ratgeber finden. Sie sind die Basis für Aussagen wie „Wenn du das Kind weiter so verwöhnst, tanzt es dir bald auf der Nase herum!“ oder „Ein Klaps hat noch keinem geschadet!“ oder „Die Eltern haben das Sagen, Kinder haben zu folgen!“

Dahinter steckt die Annahme, dass Kinder machthungrige kleine Tyrannen sind, die das Ziel verfolgen, ihre Eltern so weit wie möglich zu manipulieren, zu „testen“ und zu provozieren. Auch die Behauptung, dass Kleinkinder in der Trotzphase „Grenzen austesten“, ist im Grunde von dieser Sicht auf Kinder geprägt. Diese pädagogische Lehrmeinung geht davon aus, dass Eltern ihre Kinder mit eiserner Hand führen sollten. Sie sollten stets konsequente und strenge Autoritätspersonen sein, deren Meinung nicht angezweifelt werden darf und sie dem Kind klar zeigen, was es zu tun und zu lassen hat. Eine solche Erziehung wird als optimal angesehen, weil ein Kind sonst versucht, stets nur seinen eigenen Wünschen zu folgen und sich zu einem egoistischen, nicht gesellschaftsfähigen und faulen Menschen entwickeln würde.

Die Entwicklungspsychologie zeigt, dass dieses Bild vom Kind nicht realistisch ist. Kinder wollen grundsätzlich weder herrschen noch manipulieren und auch niemanden unterdrücken. Vielmehr sind Kinder, wie Erwachsene auch, Wesen mit ganz unterschiedlichen Gefühlen und Ideen, die sie mal erwünscht und mal völlig unerwünscht handeln lassen. Kinder möchten erst einmal mit ihren Eltern gut auskommen, denn sie haben den Wunsch nach Zusammenhalt, Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Sie möchten sich nützlich fühlen, zu etwas Positivem beitragen, aber natürlich auch Spaß haben und Neues entdecken.
Klaus Grawe spricht von vier Grundbedürfnissen von Menschen, die auch bei Kindern deutlich werden:

  1. Orientierung/Kontrolle – wissen, wo sie hingehören, welche Werte wichtig sind und das Gefühl, gewissen Einfluss auf das eigenen Leben zu haben.
  2. Lustgewinn/Unlustvermeidung – also Freude, Spaß haben.
  3. Bindung – Verbundenheit zu anderen Menschen.
  4. Selbstwerterhöhung/-schutz – das Gefühl, wertvoll und wichtig zu sein.

Wenn man sich diese Grundbedürfnisse mal anschaut, lassen sich damit viele kindliche Verhaltensweisen erklären. So kommt es bei Kindern oft zu „schlechtem Benehmen“ wie Wutausbrüchen oder Provokationen, wenn sie:

  • nicht verstehen, was gerade los ist oder warum das, was sie tun möchten, nicht möglich ist (Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle).
  • sie sich abgewertet oder nicht ernst genommen fühlen (Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und -schutz).
  • sie sich gelangweilt fühlen bzw. nicht ausgelastet sind (Bedürfnis nach Lustgewinn).
  • sie sich mehr Zuwendung wünschen, sich zu wenig beachtet fühlen (Bedürfnis nach Bindung).

Autoritäre Pädagogik – Bedeutung für den Eltern-Alltag

Wenn bestimmte Bedürfnisse für eine längere Zeit nicht erfüllt werden, kann es passieren, dass ein Kind sich – weil es nicht weiß, wie es mit diesem Mangel umgehen soll – ungünstige Wege auswählt und damit versucht, das Bedürfnis doch irgendwie zu erfüllen. So kann es passieren, dass ein Kind, das zu wenig Anerkennung bekommt, lügt, um vor anderen besser dazustehen. Oder, dass ein Kind, dass vor allem dann Zuwendung erhält, wenn es krank ist, chronische Schmerzen entwickelt.  Oder, dass ein Kind, dessen Leben oft sehr stressig und unvorhersehbar ist, sehr dominant wird, weil es so versucht, sich sicherer zu fühlen („Ich habe Einfluss auf mein Leben!“).

Auch das Ärgern und Provozieren kann ein Weg sein, sich stark zu fühlen, wenn man sonst das Gefühl hat, dass vieles einfach passiert und man kaum Kontrolle über das eigene Leben hat. Oder ein Versuch, von anderen Anerkennung als der „coole, starke Anführer“ zu erhalten, weil man eigentlich sehr unsicher über den eigenen Wert ist.

Manchmal sind es auch Kleinigkeiten, z.B., dass Kinder gerade zu wenig Anregung bekommen und deshalb aus Langeweile unruhig werden und dies durch anstrengendes Verhalten zeigen. In den liebevollsten Familien gibt es Phasen und Situationen, in denen nicht alle Bedürfnisse optimal erfüllt werden – wichtig ist, immer mal wieder zu schauen, wo evtl. gerade etwas fehlt und ein Ausgleich hilfreich wäre.
Wichtig ist also, bei Konflikten mit dem Kind, zu reflektieren: Könnte es sein, dass diese mit irgendeinem Grundbedürfnis zu tun haben, das gerade nicht ausreichend erfüllt wird?

Ein kleiner Funken Wahrheit steckt allerdings bei allen Schwächen doch in der autoritären Pädagogik und der hängt mit dem Bedürfnis nach Orientierung zusammen: Kinder brauchen durchaus Klarheit. Eltern dürfen auch mal Ausnahmen machen und sie sollten die Anliegen ihrer Kinder ernst nehmen und sie dort, wo es geht, auch in Entscheidungen mit einbeziehen. Dennoch sollte klar sein, dass die Eltern im Familienleben die Verantwortung tragen und, wie Jesper Juul es formuliert, „Leitwölfe“ sind, die also – liebevoll und rücksichtsvoll, aber durchaus konsequent – in grundsätzlichen Fragen die Richtung vorgeben. Dazu gehören grundlegende Familienregeln, die man z.B. in einem Familienrat gemeinsam mit den Kindern besprechen kann. Auch bestimmte Bettgehzeiten, Ernährungsregeln (z.B. Süßes nur als Nachtisch oder nicht am Vormittag) oder Vorgaben zum Medienkonsum (z.B. je nach Alter eine halbe Stunde bis Stunde am Tag, nicht mehr nach 18 Uhr o.ä.) sind sinnvoll, um dem Kind hilfreiche Strukturen und Orientierung aufzuzeigen.