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Weinen tut (manchmal) gut

Vermutlich hat das jeder und jede von uns schon einmal erlebt: Wenn alles zu viel wird, tut es richtig gut, sich einmal ganz ungehemmt auszuweinen. Danach fühlt man sich meist erleichtert, ruhiger und einfach deutlich besser. Weinen kann eine echte Befreiung sein. Untersuchungen zeigen, dass Weinen den gesamten Körper beruhigt und entspannt. Schon im alten Griechenland war das heilende, reinigende Weinen als „Katharsis“ bekannt und das lösende Weinen ist auch heute noch Bestandteil vieler Therapien.
Aber wie ist das, wenn ein Baby weint? Das empfinden wir meist als störend, manchmal auch als Vorwurf, manchmal als Hilferuf. Den meisten Eltern fällt es schwer, ihr Baby weinen zu hören.

Lesezeit: Etwa 5 Minuten
Familie liegt im Gras

Welche Bedeutungen hat Weinen bei Babys?

Wenn ein Baby viel weint, dann suchen wir Eltern nach den Ursachen: Hat es Hunger? Schmerzen? Eine volle Windel oder einen wunden Po? Ist es müde? Dieses Forschen nach Gründen ist goldrichtig. Und je besser du dein Baby kennen lernst, desto öfter wird es dir gelingen, zu erkennen, was dein Kleines braucht. Doch nicht immer lässt sich ein konkreter Grund finden. Und wenn Müdigkeit der Grund ist, haben Babys oft trotz des besten Einschlafrituals Probleme, in's Land der Träume zu finden und vergießen stattdessen viele Tränen.
Für uns Eltern sind diese Situationen unheimlich schwierig, weil wir einfach nicht verstehen, was unser Baby hat. Doch es gibt eine sehr einleuchtende Erklärung für diese Phasen: Manchmal brauchen Babys einfach das Weinen, um Stress abzubauen. 

Auch Babys haben Stress

Aletha Solter erklärt das in ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Warum Babys weinen“. Babys erleben bereits vielfältige Belastungen – zum Beispiel durch Ängste der Mutter in der Schwangerschaft, eine anstrengende Geburt, Konflikte der Eltern oder auch einfach durch Alltags-Stress wie neue Umgebungen, das Kennenlernen neuer Menschen, Entwicklungs- oder Wachstumsschübe. Für Säuglinge ist alles auf dieser Welt neu – und diese vielen Reize zu verarbeiten, ist ganz schön anstrengend. Im Gegensatz zu uns können Babys nicht über das, was sie erlebt haben, reden. Die einzige Sprache, die sie beherrschen, ist das Weinen. Deshalb brauchen sie das Weinen (auf dem Arm eines liebevollen Erwachsenen) als Weg zur Stressverarbeitung deutlich öfter als wir – wobei es auch uns vielleicht gut täte, uns das Weinen öfter mal zu erlauben.

Babys dürfen weinen

Wenn uns diese positive Bedeutung und Wirkung des Weinens nicht bewusst ist, dann versuchen wir als Eltern höchstwahrscheinlich immer, das Weinen unseres Babys schnellstmöglich zu beenden – zum Beispiel durch dauerhaftes, extrem häufiges Stillen oder den starken Einsatz des Schnullers, durch intensive Bewegungen (zum Beispiel ständiges Schieben im Kinderwagen oder Schaukeln auf dem Arm oder in der Wippe) oder durch Ablenken mit Spielzeug oder andere Beschäftigung. All das sind Wege, durch welche das Weinen unterbrochen wird und eine oberflächliche Beruhigung erreicht wird. Manchmal ist das hilfreich, zum Beispiel, wenn man gerade Auto fährt oder etwas Wichtiges erledigen muss oder gerade einfach keine Kraft hat, das Weinen auszuhalten. Wenn wir aber immer versuchen, das Weinen direkt zu stoppen, dann nehmen wir unserem Kind manchmal auch die Chance, seinen Stress wirklich herauslassen. Das ist, so Aletha Solter, ein Grund dafür, warum viele Babys so oft schreien oder auch nachts sehr oft aufwachen: Der Versuch, Anspannung loszuwerden, wird immer wieder unterbrochen und deshalb ist keine tiefgehende Entspannung möglich.

Wenn dein Baby also weint, obwohl es höchstwahrscheinlich nicht hungrig ist, die Windel nicht voll ist und auch Schmerzen eher ausgeschlossen werden können, dann denke doch mal an diese ganz andere Bedeutung des Weinens. Wie gesagt, alle anderen Gründe sollten natürlich gründlich erfragt werden – auch Unverträglichkeiten oder Reflux und andere Gründe für Schmerzen sollten mit dem Kinderarzt abgeklärt werden. Und auch wenn einige Hebammen noch immer zu Drei-bis Vier-Stunden-Abständen raten, haben einige Babys auch schon nach zwei Stunden wieder Hunger – und sollten dann auch gefüttert werden! Viele Babys können die Nahrung besser verdauen, wenn sie öfter gefüttert werden, weil sie dann nicht so viel auf einmal zu sich nehmen müssen. Auch Müdigkeit ist ein wichtiger Grund – Babys brauchen viel Schlaf, auch tagsüber.

Wie können wir ein weinendes Baby unterstützen?

Besonders vor dem Schlafen brauchen einige Babys immer wieder das Weinen, um abzuschalten. Mach' dir bewusst, dass das Weinen nicht immer negativ ist, sondern deinem Baby gut tun kann, solange es liebevoll begleitet wird. Nimm‘ den Druck raus, dass das Weinen unbedingt sofort aufhören muss. Sage deinem Baby freundlich: „Manchmal ist das Leben ganz schön anstrengend, was? Dann tut Weinen ganz gut. Lass' ruhig alles heraus. Ich halte dich!“ Mach' es dir bequem im Sitzen oder Liegen mit erhöhtem Oberkörper und nimm' dein Baby einfach auf deinen Arm. Atme selbst tief in den Bauch und lange wieder aus, als würdest du alle Anspannung herausatmen. Dadurch wird deine eigene Körperspannung weniger und das gibt deinem Baby Sicherheit.

Gerade in den ersten Wochen schreien Babys oft richtig viel und lange, zum Beispiel, weil sich viel Stress angestaut hat. Flüstere deinem Baby zwischendurch beruhigende Worte zu, aber versuche, das Weinen eine Weile zuzulassen. Das bedeutet nicht, dass Schaukeln oder Tragen grundsätzlich falsch sind – im Gegenteil, es tut Babys unheimlich gut, einige Stunden am Tag eng am Körper der Eltern getragen zu werden! Aber es ist sinnvoll, sein Baby auch dann zu tragen, wenn es gut zufrieden ist – und nicht nur, wenn es schreit, weil es dann schnell das Tragen mit Stress verbindet. Viele Eltern gewöhnen sich auch an, ihr schreiendes Baby stundenlang durch die Wohnung auf und ab zu tragen oder es ständig anzulegen, um das Schreien zu stoppen. Versuche doch mal, eine Weile auf solche „Einschlummer-Hilfen“ zu verzichten und in dieser Zeit den Druck rauszunehmen, dass du das Weinen beenden musst. 

Gemeinsam geht es besser

Wenn du nicht mehr kannst und aggressiv wirst, lege dein Baby an einem sicheren Ort ab und erkläre: „Ich brauche eine kurze Pause, bin gleich wieder da!“ Noch besser ist es natürlich, wenn du dein Baby einem anderen lieben Menschen anvertrauen kannst.
Wenn möglich, kannst du das Halten beim Weinen auch zwischendurch mal mit deinem Partner gemeinsam machen, wie es in der Fachliteratur beschrieben wird: Du hältst dein Baby und dein Partner setzt sich hinter dich und gibt dir Halt (oder anders herum).
Wann das Weinen zu viel wird und etwas mehr Beruhigungshilfe nötig ist, spürst du vermutlich selbst ganz gut, wenn du sensibel auf dein Baby achtest und dir gleichzeitig klar machst, dass Weinen auch sehr wohltuend sein kann.
Auch für Kinder ist es hilfreich, wenn sie einfach mal weinen oder toben dürfen, ohne gleich abgelenkt oder zurechtgewiesen werden.
Ein weinendes Baby oder Kind zu halten und das Weinen zuzulassen erfordert Kraft und Nerven. Doch du hilfst deinem Kind, eine Fähigkeit zu entwickeln, die für sein gesamtes Leben wertvoll ist: Gefühle zuzulassen und vertrauten Menschen mitzuteilen.

Ein Tipp zum Schluss:

Was wir für dein Baby gilt, gilt natürlich auch für dich selbst: auch du darfst weinen, wenn du erschöpft bist oder wenn dein Baby-Tag besonders anstrengend war. Auch dir kann das Weinen helfen, wieder ins innere Gleichgewicht zu kommen. Es gibt kein Diktat – ausser vielleicht in der Werbung – dass Mütter oder Väter rund um die Uhr strahlen müssen. Weinen und Lachen – alles hat seine Zeit und gehört zu einem erfüllten Leben.