„Du musst strenger mit ihm sein, verwöhne ihn doch nicht so!“ meint Helga zu ihrer Tochter Naomi. Naomi blickt seufzend zu ihrem dreijährigen Sohn Niklas. Hat ihre Mutter, die es natürlich absolut gut meint, womöglich recht? Doch eigentlich sagt ihr Bauchgefühl, dass sie einfach nur liebevoll auf ihr Kind eingeht. Rund um das Thema „Verwöhnen“ gibt es viele Mythen und Missverständnisse – und diesen wollen wir uns hier widmen. Dazu ein paar konkrete Fakten und Erklärungen.
Die sogenannte „Schwarze Pädagogik“, besonders dominant während des Nationalsozialismus, jedoch auch schon davor, ging von einem kindlichen Willen nach Macht aus. Man meinte, Kinder müssen klar begrenzt und streng erzogen werden, weil sie sonst ihre Eltern tyrannisieren und an der Nase herumführen. Noch heute lassen sich Spuren dieses Denkens erkennen, wenn es z.B. heißt „Der will seine Grenzen austesten“ oder „Die will nur ihren Willen durchsetzen“.
Dies widerspricht jedoch dem, was die Kindheitsforschung zeigt, nämlich: Kinder wollen kooperieren. Sie wünschen sich eine gute Beziehung zu ihren Bezugspersonen, sie wollen natürlich entdecken und natürlich möglichst viel von dem probieren, was ihnen in den Sinn kommt – aber es geht ihnen dabei nicht um Dominanz oder Provokation. Wenn Kinder provozieren oder immer den Ton angeben wollen, dann ist dies in der Regel eher ein Hilferuf – ein Alarmzeichen oder ein völlig natürliches Streben nach Autonomie: Es stimmt etwas nicht, das Kind fühlt sich unsicher und weil es nicht weiß, wie es damit umgehen soll, versucht es diese Unsicherheit durch künstliche Stärke zu überdecken oder es möchte sich durch dieses Verhalten sein Bedürfnis nach Autonomie stillen und probiert hier alles Mögliche aus.
Babys und Kinder haben Bedürfnisse, das ist ganz natürlich – beispielsweise nach körperlicher und emotionaler Nähe, nach Zuwendung, Aufmerksamkeit, aber auch nach Spaß und Unbeschwertheit. Das Ausmaß bestimmter Bedürfnisse kann ziemlich stark schwanken. Wenn also ein Kind gerade besonders viel Nähe braucht, dann verwöhnen die Eltern es nicht, wenn sie ihm viele Kuscheleinheiten geben. Im Gegenteil, sie nehmen einfach das Bedürfnis wahr, das gerade da ist – wunderbar und genau richtig! Und wenn ein Kind bei der Eingewöhnung im Kindergarten unsicher ist und die Eltern gern länger dabeihaben möchte als vom Kindergarten vorgesehen? Auch das ist ein ganz normales Bedürfnis – nach Begleitung in einer noch unvertrauten Umgebung. Hier Nähe und Sicherheit zu geben stärkt die Bindung zum Kind und das kindliche Selbstwertgefühl.
Was bedeutet denn eigentlich Verwöhnen? Zum Beispiel kann man davon sprechen, wenn Eltern ihrem Kind regelmäßig Dinge abnehmen, die es selbst tun oder altersgemäß lernen könnte – z.B., wenn ein Fünftklässler sein Brot nie selbst schmiert, seinen Teller nicht selbst wegstellt o.ä. Oder, wenn die Eltern stets allein das Zimmer des Kindes aufräumen, anstatt dies mit ihm gemeinsam zu üben. Wobei es durchaus normal ist, dass Kinder hier noch lange Anleitung und Unterstützung brauchen – aber eben Anleitung, nicht Abnehmen der Aufgabe.
Vieles lernen Kinder nur durch ein gewisses Maß an Frust. Bevor ein Baby es schafft, sich zu drehen, klappt es viele Male nicht. Wenn die Eltern einem Baby den weggerollten Ball immer direkt wiedergeben, sieht das Baby wenig Notwendigkeit darin, seine Fortbewegungsfähigkeit auszuprobieren und motorische Fortschritte zu machen. Wenn die Eltern immer auf den letzten Drücker noch am Abend schnell die Schulaufgaben mit ihm mit erledigen, die das Kind mal wieder nicht rechtzeitig gemacht hat, dann lernt das Kind nicht, dass es sich anders strukturieren könnte. Eltern sollten immer für ihre Kinder da sein – aber sie sollten ihnen nicht die Konsequenzen ihres Handelns ersparen.
Denn dadurch verhindern sie wichtige Lernerfahrungen, die beim Kind zu einer Anspruchshaltung und mangelnder Anstrengungsbereitschaft führen können: „Notfalls kümmern sich meine Eltern“ oder „Ich komme immer irgendwie durch, ich muss mich nicht anstrengen“ oder „Ich kann das nicht alleine, weil ich immer meine Eltern dafür brauche“ oder „Meine Eltern trauen es mir nicht zu“ oder „Ich habe Angst vor der Anstrengung, weil ich nicht gelernt habe, den Frust auszuhalten.“
In einer Familie gibt es neben den kindlichen Bedürfnissen auch um die Bedürfnisse der Eltern. Phasenweise können die mal zurückstehen, doch zu lange ständig über die eigenen Grenzen zu gehen, ist ungesund. Auch Kinder spüren es auf Dauer, wenn die Eltern häufig am Limit sind und sich selbst überfordern. Eltern sollten also nicht sich selbst kaputt machen, um ihrem Kind vermeintlich „alles“ zu geben. Einem Kind, dessen Eltern am Ende sind, geht es niemals wirklich gut. Es wird zumindest unterschwellig verunsichert, weil es spürt, dass es seinen Eltern nicht gut geht, auch wenn sie versuchen, das zu verstecken. Und es lernt nicht, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen oder abzuwarten.
Je nach Alter gibt es hier natürlich Abstufungen. Auf ein Neugeborenes sollte man immer rasch reagieren. Abhängig vom Alter ist ein Kind auch in der Lage, abzuwarten, sofern das Kind spürt: „Mama/Papa versuchen sich gleich um mich zu kümmern. Jetzt im Moment, geht es nur noch nicht.“ Wichtig ist immer, Grenzen liebevoll und ehrlich zu erklären, damit das Kind versteht, warum etwas gerade nicht geht.
„Hannes, ich möchte bitte, dass du jetzt kommst!“, ruft Hendrik seinem Sohn zu. Hendriks Stimme klingt nervös, künstlich hoch und auch sein Lächeln wirkt alles anders als echt. Kein Wunder, er wiederholt sich ja schon zum dritten Male. Hannes sieht seinen Vater irritiert an und spielt weiter.
Was ist hier passiert? Hannes merkt, dass etwas nicht stimmt. Hendriks Stimme und Mimik passen nicht zu seiner wirklichen Stimmung. Er klingt aufgesetzt nett, während er innerlich vor Wut kocht. So etwas spüren Kinder und es verunsichert sie sehr. Manchmal reagieren sie dann erst recht nicht, weil sie das Verhalten nicht recht einordnen und ernst nehmen können. Eltern rutschen oft in diese Falle, wenn sie sich besonders um scheinbar gutes Eltern-Verhalten bemühen wollen. Wenn sie auf keinen Fall laut werden wollen. Oder wenn sie denken, dass dreijährige Kind braucht unbedingt das Familienbett, obwohl sie selbst kaum ein Auge dabei zubekommen. Das führt zu Konflikten zwischen Innen und Außen und das wiederum zu ganz viel Anspannung. Kinder lernen dann nicht, mit einem ehrlich gemeinten „Nein“ umzugehen, weil sie immer nur ein „Ja“ hören, obwohl dieses nicht echt ist.
Du siehst: Verwöhnen hat wenig mit dem zu tun, womit es oft in Verbindung gebracht wird. Nähe, Zuwendung, Liebe … von all dem gibt es kein „Zu viel“. Zumindest nicht dann, wenn die Bedürfnisse und Grenzen aller Beteiligten ernst genommen und gewahrt werden.